Vor dem großen Krieg

August 1914 Die Konflikte waren doch noch immer in letzter Stunde, bevor es ernst wurde, glücklich beigelegt worden. Warum nicht auch diesmal?
Ausgabe 06/2023
Bloß nicht die Laune verderben lassen. Schon gar nicht von schlechten Nachrichten
Bloß nicht die Laune verderben lassen. Schon gar nicht von schlechten Nachrichten

Illustration: Jonathan Vermersch

Auch in Le Coq, dem kleinen Seebad nahe bei Ostende, wo ich zwei Wochen verbringen wollte, ehe ich wie alljährlich Gast in dem kleinen Landhause Verhaerens war, herrschte die gleiche Sorglosigkeit. Die Urlaubsfreudigen lagen unter ihren farbigen Zelten am Strande oder badeten, die Kinder ließen Drachen steigen, vor den Kaffeehäusern tanzten die jungen Leute auf der Digue. Alle denkbaren Nationen fanden sich friedlich zusammen, man hörte insbesondere viel deutsch sprechen, denn wie alljährlich entsandte das nahe Rheinland seine sommerlichen Feriengäste am liebsten an den belgischen Strand.

Die einzige Störung kam von den Zeitungsjungen, die, um den Verkauf zu fördern, die drohenden Überschriften der Pariser Blätter laut ausbrüllten: „L’Autriche provoque la Russie“, „L’Allemagne prépare la mobilisation“. Man sah, wie sich die Gesichter der Leute, wenn sie die Zeitungen kauften, verdüsterten, aber immer bloß für ein paar Minuten. Schließlich kannten wir diese diplomatischen Konflikte schon seit Jahren; sie waren immer in letzter Stunde, bevor es ernst wurde, glücklich beigelegt worden. Warum nicht auch diesmal?

Eine halbe Stunde später sah man dieselben Leute schon wieder vergnügt prustend im Wasser plätschern, die Drachen stiegen, die Möwen flatterten, und die Sonne lachte hell und warm über dem friedlichen Land.

Aber die schlimmen Nachrichten häuften sich und wurden immer bedrohlicher. Erst das Ultimatum Österreichs an Serbien, die ausweichende Antwort darauf, Telegramme zwischen den Monarchen und schließlich die kaum mehr verborgenen Mobilisationen. Es hielt mich nicht länger in dem engen, abgelegenen Ort. Ich fuhr jeden Tag mit der kleinen elektrischen Bahn nach Ostende hinüber, um den Nachrichten näher zu sein; und sie wurden immer schlimmer.

Noch badeten die Leute, noch waren die Hotels voll, noch drängten sich auf der Digue promenierende, lachende, schwatzende Sommergäste. Aber zum ersten Mal schob sich etwas Neues dazwischen. Plötzlich sah man belgische Soldaten auftauchen, die sonst nie den Strand betraten. Maschinengewehre wurden – eine sonderbare Eigenheit der belgischen Armee – von Hunden auf kleinen Wagen gezogen.

Dann kamen die allerletzten kritischen Julitage und jede Stunde eine andere widersprechende Nachricht, die Telegramme des Kaisers Wilhelm an den Zaren, die Telegramme des Zaren an Kaiser Wilhelm, die Kriegserklärung Österreichs an Serbien, die Ermordung von Jaurès. Man spürte, es wurde ernst. Mit einemmal wehte ein kalter Wind von Angst über den Strand und fegte ihn leer. Zu Tausenden verließen die Leute die Hotels, die Züge wurden gestürmt, selbst die Gutgläubigsten begannen jetzt schleunigst ihre Koffer zu packen.

Auch ich sicherte mir, kaum daß ich die Nachrichten von der österreichischen Kriegserklärung an Serbien hörte, ein Billett, und es war wahrhaftig Zeit. Denn dieser Ostendeexpreß wurde der letzte Zug, der aus Belgien nach Deutschland ging.

Wir standen in den Gängen, aufgeregt und voll Ungeduld, jeder sprach mit dem andern. Niemand vermochte ruhig sitzen zu bleiben oder zu lesen, an jeder Station stürzte man heraus, um neue Nachrichten zu hören, voll der geheimnisvollen Hoffnung, daß irgendeine entschlossene Hand das entfesselte Schicksal noch zurückreißen könnte. Noch immer glaubte man nicht an den Krieg und noch weniger an einen Einbruch in Belgien; man konnte es nicht glauben, weil man einen solchen Irrwitz nicht glauben wollte. Allmählich näherte der Zug sich der Grenze, wir passierten Verviers, die belgische Grenzstation. Deutsche Schaffner stiegen ein, in zehn Minuten sollten wir auf deutschem Gebiet sein.

Aber auf dem halben Wege nach Herbestahl, der ersten deutschen Station, blieb plötzlich der Zug auf freiem Felde stehen. Wir drängten in den Gängen zu den Fenstern. Was war geschehen? Und da sah ich im Dunklen einen Lastzug nach dem andern uns entgegenkommen, offene Waggons, mit Plachen bedeckt, unter denen ich undeutlich die drohenden Formen von Kanonen zu erkennen glaubte. Mir stockte das Herz.

Der Text ist ein Ausschnitt aus Die Welt von Gestern. Erinnerungen eines Europäers. Der Band erschien zuerst 1942 im Bermann-Fischer Verlag.

Stefan Zweig wurde 1881 in Wien geboren und nahm sich 1942 in Brasilien das Leben

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