Die kalten Schauer der Alternativlosigkeit

Literatur Thomas Raabs Roman "Die Netzwerk-Orange" schildert eine Gesellschaft, die den Neoliberalismus hinter sich gelassen hat, weil sie ihn nicht mehr infrage stellt.

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Auf dem hauseigenen Spielplatz tummelten sich 1,1 Kinder pro Frau in gebärfähigem Alter.

“Die Netzwerk-Orange” ist der meiner Kenntnis nach erst zweite Roman des nun auch schon 47-jährigen österreichischen Autors Thomas Raab, dessen Schaffen ich seit geraumer Zeit mit großem Vergnügen verfolge, denn Raab ist kein normaler Schriftsteller.

Eher betreibt er Literatur als Spielart zeitgenössischer Kunst, allerdings nicht im Sinn des 20. oder gar 19. Jahrhunderts. “Die Netzwerk-Orange” ist also weder post-, noch retro-modern, weder avantgardistisch oder experimentell noch konservativ oder gar reaktionär (Gruß an Daniel Kehlmann an dieser Stelle). Es handelt sich auch nicht um ins Großartig-Literarische aufgeschäumte autofiction. – Aber was zum Teufel ist es dann? Das Problem ist, dass ich sehr wohl zu wissen glaube, was es ist, aber wie erkläre ich es der Leserin dieser Rezension, der ja evtl. tatsächlich weisgemacht wurde – und ich hoffe inständig, dass dem nicht so ist! – , D. Kehlmann repräsentiere den “Stand der Dinge” in der zeitgenössischen deutschsprachigen Belletristik?

Formal kommt “Die Netzwerk-Orange” (Anthony Burgess’ “Die Uhrwerk-Orange” von 1962 lässt grüßen) als Science Fiction-Roman daher, leicht wohlstandsverwahrloste SprößlingInnen saturierter “Unions-“(sprich: EU-)BeamtInnen bzw. UnternehmensberaterInnen in einer “lokalen Hauptstadt” (=Wien) rebellieren ein wenig gegen die vorformatiert und inauthentisch erscheinende Welt ihrer Eltern (wobei die “Dialektik der Aufklärung” von Horkheimer/Adorno als Empörungsfolklore eine gewisse Rolle spielt), ein Lehrbeauftragter für creative writing hat eine Affäre mit einer seiner Studentinnen, es kommt zum “Kommenden Aufstand“, aber am Schluss geht alles weiter wie bisher etc. – kann bzw. muss man aber alles selber lesen und zuviel spoilern will ich ja auch nicht.

Das eigentlich Faszinierende an dem Roman ist, wie es Raab schafft, sein elaboriertes soziokybernetisches Wissen (vgl. auch seine empfehlenswerten Sachbücher “Nachbrenner”, Suhrkamp 2005, und “Avantgarde-Routine”, Parodos 2008) immer wieder mal nonchalant in die Handlung einzubauen und gleichzeitig – rückkoppelnd sozusagen – den Plot als Illustration ebenjenes Wissens erscheinen zu lassen, ohne aus seinen ProtagonistInnen bloße PappkameradInnen zu machen (auf meine Weise habe ich vor einigen Jahren hier mal Ähnliches probiert, allerdings weit weniger kunstvoll). “Soziokybernetik” meint hier die Fähigkeit von staatlichen, wissenschaftlichen oder wirtschaftlichen Institutionen, gesellschaftliche Entwicklungen mit Hilfe von Big Data und potenter Algorithmen in erstaunlich präziser Weise zu antizipieren, ohne sie im herkömmlichen, philosophisch-hermeneutischen Sinn, zu verstehen bzw. verstehen zu wollen.

Exakt hier sind Raabs Gedanken anschlussfähig an Michael Seemanns Sachbuch “Das Neue Spiel” aus dem Jahr 2014 sowie einige Gedanken von Jaron Lanier, er hat aber weder, wie Seemann, die Brille des Kulturwissenschaftlers, noch, wie Lanier, die des Ingenieurs bzw. Nerds auf. Stattdessen findet er eine Reihe effektiver literarischer Mittel (wörtliche Wiederholungen spielen eine Rolle, Meta-Ironie auch, sowie der Einbau nur leicht angepasster diverser “unliterarischer” Textsorten wie technischer Protokolle, Marketing-Analysen etc.), um eine post-orwellianische, post-totalitäre, aber verblüffenderweise fast komplett gewaltfreie (ein großer Unterschied zu Burgess) Zivilisation zu skizzieren, die dem Individuum scheinbar alle Wahlfreiheiten lässt – und es gerade dadurch effizienter kontrolliert als jede stalinistische Erbmonarchie nordkoreanischer Provenienz. Diese sozial aufs äußerste segmentierte, aber eben gerade nicht individualdemokratische Massengesellschaft ist vom Autor der unsrigen so ähnlich nachgebildet, dass man beim Lesen ständig zurückprallt und zum Abgleich mit den eigenen Verhältnissen gezwungen wird, ohne jedoch den Eindruck zu haben, Raab wolle einen lediglich belehren.

Das Alleinstellungsmerkmal des BMW-Hyundai Turborange ist der Hass, den er in der Neuesten Linken zu entfachen imstande ist.

“Die Netzwerk-Orange” schildert eine post-neoliberale (“post-neoliberal” soll hier eine Gesellschaft bezeichnen, die die Ökonomisierung aller Lebensbereiche, besonders aber von Bildung und Erziehung, bereits hinter sich und nun mit den teilweise unerwarteten Konsequenzen dieses Umbaus zu kämpfen hat), im Grunde grauenhaft langweilige, weil (scheinbar) vollkommen transparente und somit ultrastabile Gesellschaft, die ebenso leidenschaftslos wie subtil von einem Rhizom aus staatlichen und/oder privatwirtschaflichen behavioral economists analysiert und somit letztlich eigentlich auch geführt wird:

Das Ministerium lieferte die Daten, der Markt regelte das Angebot, die Nachfrage zog nach.

Raabs Roman interessiert sich konsequenterweise nicht besonders für die im herkömmlichen Sinn “psychologisch überzeugende” Schilderung von individuellem Erleben als vermeintlicher conditio sine qua non “belletristischer” Literatur – was ihm das Feuilleton vermutlich nicht verzeihen wird, es wird dem Buch “Abstraktheit” und “Kälte” vorwerfen – , sondern eher für die soziopsychologischen Alleinstellungsmerkmale seiner ProtagonistInnen. Letztere erscheinen dabei – ganz wie im richtigen Leben – durchaus in keinster Weise als fremdgesteuerte Automaten, sind aber dennoch in nahezu jedem Detail ihres konkreten Verhaltens für die erwähnten staatlich-wissenschaftlich-ökonomischen Institutionen berechenbar geworden. Bei Raab umfasst dieses komplett überraschungsfreie Individualverhalten nicht nur den Konsum von Waren, sondern ebenso den gesamten Karriereweg, private Liebesverhältnisse sowie sämtliche soziokulturellen Ansichten und Gedanken der jeweiligen Person, Weltanschauliches und Ästhetisches mit eingeschlossen. (Eine Analyse der zeitgenössischen bildenden Kunst unter diesem Aspekt findet sich in Raabs Sachbuch “Avantgarde-Routine”.)

Das Gemeine an dieser literarischen Konstruktion, für die die Bezeichnung “Satire” nicht wirklich passt, ist, dass man ihre Pointen immer nur so lange genießt, bis man sich in ihnen wiedererkannt hat:

Der Höhepunkt des ästhetischen Genusses in der moralisch gebildeten Elite war seit Jahrzehnten das Vermeiden jedes Höhepunktes. Konnte dies das jeweilige … Kunstwerk nicht selbst bewerkstelligen, … musste der avancierte Genießer eben … seinen … Schreck … in eine locker-humorvolle Stimmung umdeuten.

Das abendländische Individuum – so meine Interpretation von Raabs Dystopie – wurde also weder vom real existierenden Sozialismus, noch von der Dekonstruktion, sondern vom naturwissenschaftlich unterfütterten Marketing endgültig und nachhaltig seiner ein paar Jahrhunderte anhaltenden Vorrangstellung beraubt, indem es ihm ganz einfach erfolgreich weismachen konnte, Individualität lasse sich durch den Verbrauch käuflicher Güter erzeugen, bewahren, verteidigen und stärken.

Und selbst der standhafteste Konsumverweigerer entkommt dieser angeblich “ideologiefreien” Meta-Erzählung nicht, solange er sich ausschließlich über die Konsumverweigerung definiert. Die “Abschaffung des Außen” ist somit erreicht, jede denkbare Revolte wird früher oder später über soziokybernetische Feedback-Prozesse entschärft und die Welt stellt sich den gebildeten Ständen mehr und mehr als tatsächlich “alternativlos” (A. Merkel) dar.

Das Individuum ist zwar frei wie nie, aber politisch komplett bedeutungslos geworden, weil die Erzeugung seines wie auch immer gearteten Freiheitsgefühls (vom Straßenkampf über alternative soziokulturelle Zentren bis zum obsessiven Fahrradfahren ist hier alles denkbar) mittlerweile mit verhaltensökonomischer Expertise je nach Bedarf simuliert und dadurch gefahrlos “abgefackelt” werden kann. Dies entparadoxiert ganz gut eine der (für mich) irritierendsten Beobachtungen unserer Gegenwart: die Gleichzeitigkeit von zunehmender Individualisierung und zunehmender Homogenisierung der Gesellschaft. (Ausführliches zu diesem Thema inkl. jeder Menge kognitionswissenschaftlicher Expertise liefert Raabs Sachbuch “Nachbrenner”):

Je genauer die Welt berechnet werden kann, je weiter also das objektive Verständnis des Unterbaus voranschreitet, desto wirklichkeitsferner werden die Vorstellungen im Überbau.

Am Wichtigsten erscheint mir jedoch – und hier ist Raab seinem oft hermetischen, stets ein writers’ writer gebliebenem Inspirator Oswald Wiener weit voraus – dass man diesen Roman auch ohne die von mir hier einigermaßen mühsam und einigermaßen erratisch geschilderten zivilisationsphilosophischen Hintergrundideen gut lesen kann, denn er ist ausgesprochen flott erzählt, reich an Pointen und zudem sprachlich sauber gearbeitet. Die kalten Schauer der Alternativlosigkeit werden einem trotzdem über den Rücken laufen.

Eine erweiterte Version dieser Rezension findet sich hier auf meinem Blog "Weltsicht aus der Nische."

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Stefan Hetzel

Bürger, Publizist, Komponist (autonom, aber vernetzt)

Stefan Hetzel

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