Die Netzgemeinde beobachtet sich selbst

Soziodigitalisierung Michael Seemann aka mspr0 wendet systemtheoretisches Wissen auf den "Summer of Love" 2012 der Netzgemeinde an.

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http://youtu.be/aqxk_DXIMsI

Rund einstündiger, hochinstruktiver Einblick in den Reflexionsstand der deutschen, äh, Netzgemeinde. Michael Seemann betreibt in diesem Vortrag vom 5. Juli 2013, der die erste gute halbe Stunde des Videos füllt (der Rest ist Diskussion), nichts anderes als "soziologische Aufklärung" bzw. "Systemtherapie" im Sinn Niklas Luhmanns (dessen Schüler Dirk Baecker findet einmal kurz Erwähnung) - freilich ohne dass diese Begriffe fallen würden.

Er benennt als sozialpsychologische Ursache des von einigen zynisch "Summer of Love" genannten Groß-Streits in der Netzgemeinde im Jahr 2012 nüchtern die zunehmende Diversifizierung ihrer Akteure. Der Anteil bisher problemlos "marginalisierter" Gruppen wie bsp.weise, äh, Frauen, aber auch - fällt mir da ein - Geisteswissenschaftler oder nicht internet-affine Künstler hat offenbar, so Seemann, im Verlauf des vergangenen Jahres innerhalb der Netzgemeinde eine "kritische Masse" erreicht und sich plötzlich von den bisher tonangebenden Nerds nicht mehr so einfach "den Mund verbieten lassen". Was bisher als nerdiger common sense durchging, wurde nun vehement kritisiert (als "sexistisch", "systemadministrokratisch" oder auch "kunstfeindlich" - die letzten beiden Bezeichnungen stammen von mir, nicht von Seemann). Das Problem war nun, dass sich diese Kritik nicht mehr einfach als Trollkommunikation abtun ließ, kam sie doch von den neuen AkteurInnen innerhalb der Community.

Diese gewannen ihre Kritik jedoch aus, so Seemann, "Beobachtungsschemata", die von der Nerd-Fraktion bisher kategorisch zurückgewiesen wurden, weil sie, so interpretiere ich Seemann, im weitesten Sinn dem "politisch korrekten" Diskursstil entstammen. So werde nun bsp.weise dem Nerd permanent zugemutet, sein "Weiß-Sein" (Hautfarbe), sein "Mann-Sein" oder sein "Mittelschicht-Sein" in allem, was er äußere, mitzureflektieren. Auf der anderen Seite unterstelle die Nerd-Fraktion allen Nicht-Nerds innerhalb der Netzgemeinde weiter relative technische Ahnungslosikgeit (vermutlich sogar zu Recht!): Solange man nicht verstehe, wie das Internet technisch funktioniere, könne man hier ja gar nicht wirklich mitreden etc.

Seemann interpretiert diese Situation als plötzlichen und dramatischen Anstieg kommunikativer Komplexität, der aber nicht von einem ebensolchen Zuwachs an meta-kommunikativer Kompetenz abgefangen wurde. Sehr viele spürten wohl, dass es jetzt schwierig, unübersichtlich und ätzend werden würde - aber keiner wußte so recht, wie er damit umgehen sollte. Woher auch? Erfahrungswerte fehlten! Das (vorläufige) Ergebnis: Hauen und Stechen, jeder gegen jeden, die ganz große Prügelei, die Piratenpartei demontierte sich selbst etc. Dies sei die Kern-Erfahrung des "Summer of Love" (bzw. "Summer of Hate") im vergangenen Jahr gewesen.

Verblüfft hat mich an Seemans Vortrag, dass selbst diejenigen, die sich als Avantgarde der Digitalen Revolution begreifen und deren Online-Sozialisierung gesellschaftsweit am Fortgeschrittensten sein dürfte, auf sozialpsychologische Probleme treffen, wie sie in jedem Kaninchenzüchterverein auftreten, sobald eine relativ homogene Riege von Alt-Mitgliedern von einigen "irgendwie anderen" Neu-Mitgliedern herausgefordert wird. Die jahrelange Vertrautheit mit avanciertesten technischen Kommunikationsmedien scheint bei der "Nerd"-Fraktion in keinster Weise zur Erhöhung meta-kommunikativer Kompetenz geführt zu haben. Trotz ihrer, oberflächlich gesehen, globalen, äh, Vernetztheit begegneten sie ihren neuen, auf für sie unerträgliche Weise "politisch korrekten" Gemeindemitgliedern offenbar mit einer Borniertheit, die man früher provinziell genannt hätte.

Um derartige "Aushandlungsprozesse", die Seemann, der sich übrigens selbst der Nerd-Fraktion zurechnet, dezidiert begrüßt und für unabdingbar hält - er bezeichnet sie bei 25'29" sogar euphorisch als "gesellschaftlichen Fortschritt @ work" -, in Zukunft "unblutiger" führen zu können, bedürfe es natürlich diverser "Lösungsstrategien". Hier wird der Referent jedoch überraschend schmallippig: Neben recht allgemein gehaltenen Ratschlägen wie überlegterer Fokussierung des Diskussionsverhaltens und erhöhter persönlicher Achtsamkeit ("awareness") verweist er vor allem auf den Aufsatz "Sümpfe und Salons" von Kathrin Passig aus dem Jahr 2011, wo "technische Tools" zur "sinnvollen Strukturierung" einer Online-Debatte ausführlich referiert würden. Es fällt das Schlagwort von der "Filtersouveränität" der Diskutanten, die aber nicht hinreichend erklärt wird.

Mittlerweile habe ich Passigs Artikel gelesen. Er enthält keine Lösung des Problems überfordernder kommunikativer Komplexität bei Online-Debatten (behauptet allerdings auch nicht, eine gefunden zu haben). Vielmehr wird das Scheitern bisheriger Lösungsstrategien (diverse Formen der Moderation, rigoroser Ausschluss von Trollen und troll-ähnlichen DiskutantInnen, Belohnungssysteme für kommunikatives Wohlverhalten u. a.) an konkreten Beispielen ausführlich dokumentiert.

Und das stellt in jedem Fall einen konstruktiven Beitrag zur Lösung des Problems dar - ebenso wie Seemanns Referat.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Stefan Hetzel

Bürger, Publizist, Komponist (autonom, aber vernetzt)

Stefan Hetzel

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