Postpunk, Neoliberalimus, Kunstmusik

Literatur Ein Gesellschaftsroman, der die Bezeichnung verdient: "Die Einzigen" von Norbert Niemann

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Nach einigen Jahren der Stille hat der von mir von Anfang an geschätzte und immer mal wieder brillante Romancier (altmodischer Begriff, hier aber zutreffend) Norbert Niemann gottseidank wieder zugeschlagen und mit “Die Einzigen” einen Gesellschaftsroman geschrieben, der diese Bezeichnung verdient. Warum?

Weil “Die Einzigen” wirklich ein Gesellschaftsroman ist und nicht nur so tut, wie etwaKrachts “Imperium” von 2011 oder Kraussers “Thanatos” von 1996. Was bei Kracht eher bildungsüberzuckert daherkommt und bei Krausser (leider!) oft narzisstisch verzerrt, kann sich unter Niemanns nüchternem Blick prächtig entfalten: die Milieustudie (auch dies ein schrecklich altmodischer Begriff, der aber nach meinem Dafürhalten weiterhin funktioniert).

Niemann hat sich für “Die Einzigen” im Wesentlichen das Soziotop “Neue Musik” (gut, ein wenig auch das Post-Punk-Milieu der 1980er Jahre) ausgesucht – und ist damit schon mal der erste überhaupt, der einen Roman verfasst hat (oder hab ich da was verpasst? Falls ja – bitte melden, danke :-)), in dem diese soziokulturelle Enklave (also die Neue Musik jetzt) eine tragende, d. h. die Hauptfigur antreibende, Rolle spielt.

Und Niemann weiß ganz offenbar, wovon er schreibt, er beschränkt sich nicht auf strategisches Namedropping (“Ja ja, Luigi Nono [seufz]”, “Mein Gott, das erinnert ja fast an Steve Reich!”, “Er war nun mal kein Conlon Nancarrow!” etc.), sondern lässt seine Hauptfigur Harry tatsächlich Erfahrungen mit Neuer Musik machen, die – und ich greife hier nicht zu hoch – dessen Leben verändern.

Ja potzausend, dachte ich da kurz während der Lektüre, jetzt wird doch nicht ein 1961 in Landau an der Isar geborener Schriftsteller ernsthaft plötzlich die nierentischförmige Nachkriegsutopie einer Transformation der Gesellschaft durch abstrakte Kunst aufköcheln wollen?

Aber nein – Niemann behält bei aller Begeisterung für sein Sujet stets den Überblick: Er schildert, wie die Erfahrung Neuer Musik ein – entsprechend geneigtes – Individuum durchaus bis heute (2014) erschüttern und “verwandeln” kann, ist sich aber im Klaren darüber, dass die Art und Weise dieser Erschütterung und Verwandlung dramatisch unterbestimmt bleibt (Im Falle seiner Figur “Harry” – und jetzt kommt ein kleiner Spoiler – dient sie bsp.weise letztlich betriebswirtschaftlicher Innovation, was jetzt – wieder bsp.weise – Conlon Nancarrow vermutlich zumindest verblüfft hätte).

Und da wären wir auch schon bei einer zentralen Funktion des Gesellschaftsromans, die Niemanns Bücher (ja: – alle!) mustergültig erfüllen: Spiegelung. “Die Einzigen” erfindet realistische Kunstfiguren (ein Widerspruch in sich), mit denen sich die Leserin identifizieren kann (und sei es im Sinne von “Aber so bin ich ja ganz bestimmt nicht!”) und die ihr hilft, ihren Standort im komplexen Geschiebe des Jetzt zu bestimmen. Auch sehr gute Fernsehfilme schaffen das mitunter, ganz selten sogar Fernsehkrimis.

Was Niemann besser kann als alle mir bekannten deutschsprachigen Belletristen seiner Alterskohorte (die Katharina Hacker der “Habenichtse” ausdrücklich ausgenommen), ist die einfühlende, aber dennoch analytische Beschreibung der Innenwelten seiner Figuren. Er nimmt, wie das Belletristen ja wohl tun sollen, den Leser an der Hand und führt ihn ein in die Subjektivität seiner Figur (hier: “Harry”, alle anderen Figuren werden von außen beschrieben) – und zwar so, dass man mitgehen muss, dass es einen packt, dass man das Papier eben nicht rascheln hört. Gleichzeitig bleibt immer klar, dass es sich hier um ein Artefakt handelt.

Dennoch weigert sich Niemann beharrlich, seine Figuren – so inkonsistent und mitunter verachtenswert sie sich auch gelegentlich verhalten mögen – zu verraten (Ein weiterer Unterschied zu Kracht und Krausser: Krachts Hauptfigur in “Imperium” bleibt für mich ein – wenn auch ideengeschichtlich interessanter – Papiertiger, Kraussers Protagonisten sind eigentlich immer Soziopathen, d. h. Figuren, mit denen mitzufühlen uns der Autor geradezu verbietet).

Ich verstehe alle Leserinnen von Niemann-Romanen, die dessen Figuren kalt lassen, weil sie nun mal nicht deren Alterskohorte angehören – ihr Leben wurde und wird von anderen Faktoren geprägt. Sie wissen bsp.weise nicht, was “Post-Punk” heißen soll (dieser Sammelbegriff ist selbst innerhalb der Generation X nicht durchgehend bekannt, bzw. wird teilweise abgelehnt etc.), haben sich niemals mit Neuer Musik auseinandergesetzt etc. Das ist aber nicht Norbert Niemann anzulasten, der das einzige tut, was ein Romancier tun sollte, nämlich über das schreiben, was er kennt und persönlich erfahren hat. Gelungen ist ein Roman dann, wenn der Text die Zeitgebundenheit der geschilderten Ereignisse vergessen macht. Die Zeitgeschichte ist das Medium des Romans, nicht sein Inhalt (Kafka und Musil werden ja auch nicht deswegen heute noch gelesen, weil wir uns so brennend für das Prag bzw. das Wien des frühen 20. Jahrhunderts interessieren würden).

Was Niemann nicht so gut kann, ist Dramaturgie. Bei den “Einzigen” kommt er jedoch deren Ziel, einen erzählerischen Bogen zu schlagen, recht nahe. Für meine Begriffe versauen diesmal lediglich die letzten Sätze (hier werde ich jetzt nicht spoilern) dieses Unterfangen – dafür aber gründlich. Angesichts der Fülle an treffenden Beobachtungen und scharfsichtigen Alltagsanalysen, die vorhergehen, fällt das dann aber nicht mehr ganz so schwer ins Gewicht.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Stefan Hetzel

Bürger, Publizist, Komponist (autonom, aber vernetzt)

Stefan Hetzel

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