Toleranz, Geschmack, Minimalismus

Individualdemokratie Gedanken zu einem erzwungenen Konzertabbruch in der Kölner Philharmonie

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Was mich irritiert an der aktuellen Debatte um den durch Publikumstumulte erzwungenen Abbruch einer Performance von Steve Reichs Komposition "Piano Phase"in der Kölner Philharmonie ist das gelegentlich auftauchende sog. "Geschmacksargument". Das geht ungefähr so: "Prinzipiell bin ich ja schon tolerant gegenüber moderner Kunstmusik, aber *Minimal music* ist ja wohl eine Zumutung! Das ist wirklich immer dasselbe! Unglaublich nervtötend! Ist das überhaupt noch Musik? Jedenfalls ist es nicht mein Geschmack! Und das wird man ja wohl noch äußern dürfen!"

Halten zu Gnaden, aber für mich klingt das strukturell nach: "Prinzipiell habe ich natürlich nichts gegen andere Rassen, aber willst du wirklich ausgerechnet einen Aborigine zum Abendessen einladen? Das muss doch nicht sein, oder?"

Toleranz und Geschmack haben - entgegen landläufiger Meinung - rein gar nichts miteinander zu tun, werden aber, gerade, wenn es um sperrige Kunstmusik geht, immer wieder in eine schiefe Verbindung gebracht. Mir gefällt die Musik Helmut Lachenmanns überhaupt nicht, sie ist so ziemlich das Gegenteil dessen, was ich mir unter zeitgemäßer Kunstmusik vorstelle. Ich halte sie für ein verstaubtes, letztlich rückwärtsgewandtes Relikt der Nachkriegszeit, zweifellos von historischer Relevanz - aber ich kann sie nun mal partout nicht ab. Nur käme ich deswegen noch lange nicht auf die Idee, eine Aufführung von "Gran Torso" durch Störgeräusche zu sabotieren oder gar türschlagend den Raum zu verlassen (obwohl mir das Stück tierisch auf die Nerven geht und mich wirklich physisch attackiert!). Ich bin so erzogen worden, meinen diesbezüglichen Emotionen dadurch Ausdruck zu verleihen, dass ich, sollte ich, aufgrund welch widriger Zeitläufte auch immer, tatsächlich in einem Konzert mit diesem Stück gelandet sein, dann eben nach Ende der Performance lediglich mühsam zwei-, dreimal die Handflächen rhythmisch gegeneinander bewege und ansonsten finster ins Dunkel starre. Mehr Mißfallen aber geht nicht (Anders bei Uraufführungen, wo man nach Belieben "Buh!", "Btavo!" etc. rufen kann.).

Wie kommt es, dass viele, gerade auch jüngere Menschen heute scheinbar nicht realisieren, dass "Geschmack" und "Toleranz" zwei ganz unterschiedlichen Begriffskategorien angehören? Hängt es eventuell damit zusammen, dass der soziale Druck, sich über einen dezidierten Geschmack identifizierbar, ja, einmalig machen zu müssen, kaum jemals höher gewesen sein dürfte als in der heutigen konsumbasierten Individualdemokratie (was allerdings in einer toleranten Gesellschaft kein wirkliches Problem darstellt und für die sattsam bekannten multikulturellen Verhältnisse sorgt)?

Blöd wird's nur dann, wenn die Sache kippt und man die gesellschaftliche Hintergrundtoleranz nur noch als allgemeine kulturelle Indifferenz bzw. Gleichmacherei wahrnimmt. Zweifellos ist ein sinistres Gefühl allgemeiner kultureller Indifferenz bzw. eine rein konsumierende, besinnungslose, nichts mehr unterscheiden wollende "Kulturbeflissenheit" eine Folge falsch verstandener Toleranz bzw. ein Überfluss- und -drussphänomen, aber das ist ein anderes Thema.

Um diesem "Unbehagen in der Kultur" zu begegnen, fühlt man sich dann legitimiert, seine Meinung ganz besonders entschieden und, vor allem, emotional zu äußern (Argumente sind was für Weicheier!), gegen die angeblich jegliche echte Kreativität erstickende Political Correctness zu stänkern und sich nur noch in regressiver "selektiver Toleranz" zu üben: "Was mir nicht gefällt, muss ich auch nicht dulden!" oder, in der vulgären Fassung: "Wenn ich was Scheiße finde, dann brüll ich das auch raus ohne Rücksicht auf Verluste. Schließlich leben wir in einer freien Gesellschaft, oder?"

Wer die gesellschaftliche Hintergrundtoleranz, die in Deutschland weiterhin von breiten Bevölkerungsschichten getragen wird, derartig missbraucht, ist entweder gedankenlos oder hat ein Identitätsproblem - welches dann aber am komplett falschen Ort ausagiert wird.

"Selektive Toleranz" ist ein Widerspruch in sich. Denn die respektvolle Duldung und das Seinlassen der/des Anderen erträgt per definitionem keine weiteren Qualifikationen*.

Ich fasse zusammen:

  1. Toleranz ist wie Schwangersein. Entweder jemand ist es. Oder eben nicht.
  2. Toleranz heißt nicht, "alles gut finden zu müssen". Sie beinhaltet sehr wohl basale Formen des Respekts und der Höflichkeit, hat aber nichts mit Liebedienerei bzw. opportunistischem Verhalten zu tun.
  3. Nicht der beweist eine "gute Erziehung" oder gar "demokratisches Bewusstsein", der zu jeglicher Form speziell staatlich geförderter Kultur Ja und Amen sagt, sondern diejenige, die mit ihrer Meinung als Bürgerin gerade hier nicht hinterm Berg hält.
  4. Etwas richtig Scheiße zu finden, hat nichts mit Intoleranz zu tun. Es handelt sich vielmehr um eine legitime emotionale Meinungsäußerung, für die jeder wirklich souveräne Künstler sogar dankbar sein wird**. "Opfert" man diese Gefühle einem falsch verstandenen Begriff von "Kulturbeflissenheit" à la "Es ist schließlich Kultur, also muss es gut sein!", schadet man nicht nur seiner eigenen Psyche, indem man aus seinem Herzen eine Mördergrube macht, sondern letztlich auch dem allgemeinen kulturellen Diskurs, der genau dann komplett dysfunktional wird, wenn schließlich gar niemand mehr auszusprechen wagt, was er wirklich empfindet. So entsteht ganz allmählich ein soziokulturelles Reizklima, das die Tendenz hat, sich immer weiter aufzuschaukeln.***
  5. Dinge höflich zu (er)dulden, die einem nicht gefallen, hat nichts mit mangelndem Geschmack bzw. Urteilsvermögen oder kultureller Indifferenz zu tun. Es handelt sich vielmehr um die zivilisatorische Voraussetzung für eine funktionale multikulturelle Gesellschaft.

Natürlich ist das alles völlig uncooles staatsbürgerliches und zivilgesellschaftliches Basiswissen, dennoch scheint es mir notwendig zu sein, angesichts der Ereignisse in der Kölner Philharmonie mal deutlich darauf hinzuweisen.

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* Das gilt natürlich nicht bei unmittelbarer gesundheitlicher Bedrohung, was im Falle von Kunstmusik bsp.weise bei subjektiv als unerträglich empfundener Lautstärke schon mal vorkommen kann. Will sagen, es hat nichts mit Intoleranz zu tun, wenn ich ein Konzert fluchtartig verlasse, weil es mir zu laut ist.

** Diese wird allerdings kommunikabler, wenn man sie auch begründen kann. Das macht aber Arbeit.

*** Exakt da stehen wir heute. Und exakt diese vertrackte Problemlage beuten dann rechtspopulistische Strömungen aus, indem sie behaupten, nur sie würden Dinge aussprechen, die sonst angeblich nicht ausgesprochen werden dürften. Das Problem ist aber ein ganz anderes: Viele, gerade karriereorientierte Menschen, haben ein recht "cooles", strategisches Verhältnis zur Aufrichtigkeit, weil sie steif und fest der Meinung sind, es anders nicht weit bringen zu können. Sie sehen sich moralisch dabei allerdings als Opfer der Umstände, also letztlich als integer an. Klappt's dann trotz allem nicht mit dem gesellschaftlichen Aufstieg, kann bei dieser Klientel toxische seelische Verbitterung entstehen, die wiederum von rechtspopulistischen Kräften abgeschöpft und in Hass gegen Wasauchimmer verwandelt werden kann.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Stefan Hetzel

Bürger, Publizist, Komponist (autonom, aber vernetzt)

Stefan Hetzel

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