Mein Glück ist, dass ich unwichtig und praktisch nicht vorhanden bin. Ich bin eine Randerscheinung, stoße keine Warnsignale aus. Ein Mensch. Introvertiert. Unscheinbar. Das ist mein Glück. Wenn die Leute mich zu lange anschauen oder mich berühren, würden sie es womöglich merken: Ich habe keine richtige Haut, und ich bin durchsichtig. Ohne echte Trennwände. Ich muss mich dauernd darum sorgen, welche herzustellen. Und wie ein Hund meine Grenzen bewachen. Ähnlich dem Rottweiler auf unserer Straße. Nichts ist leichter, als in mein Inneres einzudringen. Zu merken, dass. Da heißt es: Aufgepasst! Wuff, wuff, wuff."
Susannah, die 33-jährige Ich-Erzählerin, ist von Geburt an definiert durch einen Mangel: Denn sie heißt zwar Rabin, aber sie ist "keine Verwandte von". Mit diesem Mangel stellt sie sich vor. Auch sonst ist sie im israelischen Kontext eine Mangelware: nicht an den Mann zu bringen. Unfähig, eine Arbeitsstelle anzunehmen, unfähig, sich allein zu bewegen, unfähig, ohne Psychologen und die Sozialarbeiterin auch nur irgendeine Bewegung in ihr erstarrtes Leben zu bringen. Sie wohnt mit ihrer Mutter zusammen und ihr angestammter Platz in der Wohnung ist der Hocker neben einer Zimmerpflanze - starr nebeneinander verfolgen die zwei dann die Gespräche des kleinen Kreises, den ihre verwitwete Mutter um sich geschart hat. Die Pflanze vermutlich apathisch, Susannah mit Röntgenaugen und einem unbarmherzig klar interpretierenden Computergehirn.
Auf den ersten Blick könnte es so scheinen, als handele es sich um noch einen der zahlreichen neuen Romane israelischer Autorinnen, die nur Privatleben beschreiben. Die weinende Susannah von Alona Kimhi - 1966 in der UdSSR geboren und 1972 nach Israel eingewandert - geht aber darüber hinaus. Denn die Personen, die nur in privaten und halbprivaten Räumen agieren, sind so "israelisch" wie sie nur sein können. In Israel sind die Geschichten der Juden aus unterschiedlichen Weltregionen und der Konflikt mit Palästinensern und arabischen Nachbarstaaten so sehr Bestandteil des Alltags, dass es keine Menschen gibt, die völlig außerhalb von Politik und Geschichte zu erfassen sind. Die Figuren von Zeruya Shalev etwa sind Konstrukt, Wunschtraum. Die Personen von Alona Kimhi dagegen sind real. Auch wenn die Last der Geschichte den Text weniger dominiert als beispielsweise in der Prosa von Savyon Liebrecht: Auch Kimhi analysiert die Tentakel der Geschichte im privaten Leben, in den Beziehungen der Menschen zueinander. Dass der Hanser-Verlag für Kimhis Buch mit einem Lob Zeruya Shalevs wirbt, ist deshalb komisch: so, als würde man mit Gellert für Lessing werben.
Kimhi schildert Israel als ein heterogenes Land sich fremder Gruppen von Immigranten, ein Land mit viel jüdisch-arabischem, aber eben auch innerjüdischem Rassismus und als eine Gesellschaft, in der Homosexuelle von der Freiheit anderswo träumen.
Susannahs 65-jährige Mutter ist eine geradezu süchtige HaAretz-Leserin und Anhängerin der Arbeitspartei. Sie ist eine typische Vertreterin der "Weißen": europäische und russische Immigranten aus der Zeit bis zur Unabhängigkeit. Ebenso wie ihre Freundin Nechama verlor sie ihre Familie in der Shoah. Nechama ist eine gelungene Adaption der Mrs. Bates aus Jane Austens Emma. Sie bringt Komik in den Roman und zieht - für den Fortgang der Handlung von alles entscheidender Bedeutung - durch eine plötzliche Erkrankung die Aufmerksamkeit der Mutter auf sich.
Nicht so eng eingebunden in diesen Freundeskreis alter Leute ist der höfliche Geschäftsinhaber Armand. Er gehört zu "den Schwarzen", den Einwanderern, die vorwiegend erst nach dem Unabhängigkeitskrieg aus arabischen Ländern in großen Wellen nach Israel kamen und lange, teilweise bis heute, die israelische Unterschicht bildeten. Die sich vom Likud Wohnungen und Jobs versprachen - und die den europäischen Juden vielfach Dekadenz und mangelnden Mut vorwerfen, weil sie sich zu wenig gegen den Holocaust zur Wehr gesetzt hätten. Wirtschaftlich erfolgreiche sephardische und orientalische Juden schaffen den "Aufstieg", gehören aber gesellschaftlich und politisch noch nicht richtig hinzu. Neu in den Kreis kommt - bezeichnenderweise erst durch den Besuch aus Amerika eingeführt - Katjuscha, eine russische Einwandererin: drall, agil, an Geschäften und Kontakten interessiert - nicht an Politik wie die alten Leute rings um Susannah.
Susannah selbst stellt mit dem ihr eigenen nüchternen Realitätssinn der außenstehenden Beobachterin fest, dass weder Nechama noch ihre Mutter politisch irgendetwas dadurch ändern könnten, dass sie ständig die Nachrichten verfolgen und sich über Politik ereifern. Susannah vertritt die Generation der Jugend, in der viele der Politik, dem Konflikt, dem Land nur entfliehen wollen. Sie versucht in der Wahlkabine auszubrechen: kommunistisch zu wählen. Aber als gehorsame Tochter wählt sie dann doch Shimon Peres.
Susannah ist die einzige Tochter ihrer familienlosen Mutter. Während der verstorbene Vater Susannah Stärke gab, schwächt die Mutter sie, hält sie in Abhängigkeit, re-infantilisiert sie, fördert ihre Regression. Denn nur so erhält sich die Mutter eine Familie, für die sie sorgen kann. Susannah wiederum versagt sich alles, was ihre Mutter betrüben könnte, weil ihre Mutter mit solchem Verlust, solchem Leid leben muss. Eine symbiotische Beziehung zu beider, insbesondere zu Susannahs Nachteil, was Susannah längst durchschaut und in eine Theorie gebracht hat. Ihrer Klarsicht zum Trotz reagiert sie wie ein folgsames Kind, sie lehnt es ab, erwachsen zu werden und tabuisiert in ihrer rigiden Gründlichkeit gleich alles, was mit Körper zu tun hat. Sie entfremdet sich dadurch ihrem eigenen Körper derart, dass sie sich in Anwesenheit Fremder, selbst am Strand, nur noch von oben bis unten zugeknöpft aufhalten kann. Sie setzt sich selbstverständlich nicht einmal der Berührung von Meereswellen aus. Sie kann in Anwesenheit Fremder nicht essen, nicht aufs Klo gehen, sie muss sich schon überwinden, sich selbst zu duschen. Die ursprüngliche Angst vor Wünschen wird übersteigert und führt dazu, dass sie sich krass anders verhält als andere. Ihre Furcht, Menschen zu verlieren, zu denen sie eine Beziehung aufgebaut hat, führt dazu, dass sie sicherheitshalber keine Beziehungen mehr eingeht. Da sie keine schützende Haut zu haben glaubt, versucht sie, sich zu entkörperlichen und qua angenommener Unfähigkeiten möglichst breite Schutzräume zu bekommen.
Kimhi gelingt die Darstellung dieser Persönlichkeit fast perfekt. Nur macht sie leider den fatalen Fehler, einer Frau wie Susannah Wörter wie "vögeln", "Eier" oder "Fick" in den Mund zu legen. Die würde sie nicht mal in Gedanken benutzen. In diesen bis zur Leblosigkeit beschützten Alltag Susannahs wird plötzlich eingebrochen: Ein Vetter aus Amerika steht vor der Tür und will für unbestimmte Zeit aufgenommen werden. Einquartiert wird er im Arbeitszimmer ihres verstorbenen Vaters, das für Susannah immer ein Tempel war - nun entweiht durch diesen Adonis.
Susannah muss hilflos zusehen, wie dieser Abgott eines Mannes sogar ins Badezimmer eindringt, den Ort, der Auskunft über ihren Körper gibt: Dort ist die Toilette, dort sind Cremes, Salben, Binden, das Handtuch, früher sogar manchmal ein ausgewaschener Slip. So wunderschön der Besuch auch ist - für Susannah ist er ein wandelnder Albtraum. Susannah versucht, seine dauerhafte Existenz zu leugnen und ihn sich vom Leibe zu halten, indem sie beharrlich seinen Namen meidet. Über etliche immer heißer werdende israelische Sommermonate spricht sie von ihm nur als "dem Besuch".
Naor, dessen Name Programm ist, Naor, der junge Mann, der Knabe, lebt ganz unbekümmert in seinem Körper, so dass Susannah auf ihrem Hocker neben der anderen Zimmerpflanze immer wieder ansehen muss, wie sehnig und mager sein Rücken ist, wie sich die Haut über den Rippen "des Besuchs" spannt, wenn er sich frisch aus der Dusche ganz selbstverständlich auf dem Sofa fläzt. Gleichzeitig ist sie sich ihrer vermeintlichen körperlichen Unzulänglichkeit so lastend bewusst, dass sie ab sofort eine Blumenvase in ihrem Zimmer dauerhaft zur Toilette umfunktioniert.
Natürlich kommt, ein paar hundert sehr vergnügliche Seiten später, was kommen muss. Denn "der Besuch" entpuppt sich zwar als hochverschuldeter, skrupelloser Spieler, der nicht einmal davor zurückscheuen würde, Susannah um ihr Erspartes zu erleichtern, aber er bleibt immer gut duftend, ein magischer Anziehungspunkt, der Susannah zu immer größerer Kühnheit herausfordert. Ob er nun geht oder bei ihr bleibt, ob sie mangels Haut und Schutzpanzer verletzt wird oder nicht, all das ist ihr schließlich egal: Sie will diesen Körper anfassen, spüren, in sich fühlen. Zum Glück ist Naor ein Mann, der die Gelegenheiten, die sich ihm bieten, nutzt. Bei der Darstellung allerdings kneift die Autorin, wenn sie die Ich-Erzählerin nur reflektieren lässt, wie sie sich selbst damals beobachtete. Trotzdem wird dieser Nacht die Funktion zugesprochen, der Anfang einer Befreiung, eines Lebens jenseits der Mutter zu sein. "Es gab mich. Ich lebte. Das hier war ich, ich, ich. (...) Die Eine, Einzige, die ganz für sich steht."
Sex hin oder her: "Der Besuch" bleibt "der Besuch", denn Susannahs Mutter befördert diesen Burschen, dieses Kuckucksei, das sie selbst aus dem Nest geworfen hatte, energisch und auf Nimmerwiedersehen hinaus. Ein Happy End gibt es trotzdem: die Trennung von Mutter und Tochter.
Alona Kimhi: Die weinende Susannah. Roman. Aus dem Hebräischen von Ruth Melcer, Carl Hanser, München/ Wien 2002, 443 S. , 24,90 EUR
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