»Eine Art Marshallplan« brauche das ehemalige Jugoslawien nach dem Krieg, sagt Gerhard Schröder gern. Eine schöne Idee sei das, aber nicht sehr realistisch, meint Jelena Santic, die sich seit Jahren in der Friedensarbeit mit Serben, Kroaten, Slowenen und Albanern in verschiedenen Städten des ehemaligen Jugoslawiens engagiert. Oder wolle der Westen ein Protektorat Ehemaliges Jugoslawien einrichten? Auf jugoslawischer Seite fehlten, so Santic, die Gruppen und Institutionen, die einen Marshall-Plan umsetzen könnten. Erst hat Milosevic die Zivilgesellschaft zerstört, dann hätten die Nato-Bomben die Intellektuellen im Lande, die sich für Menschenrechte und Demokratie einsetzten, schockiert und der antiwestlichen Strömung zugetrieben, die inzwischen die gesamte Gesellschaft erfaßt habe. Wer für Toleranz warb, wer erklärte, daß Menschenrechte individuelle Rechte seien, wird nun vor den Kopf gestoßen, wenn die Demokratien des Westens zwölf Millionen Menschen Bombardierungen aussetzen, um einen Politiker zu strafen. Übrigens kenne der Westen den Serbenführer offenbar wenig, wenn er so große Hoffnungen auf eine Klage in Den Haag setze. Milosevic sei schlau, es werde sehr schwer werden, Schriftstücke zu finden, die ihn als Auftraggeber für Morde an Nichtserben auswiesen.
Jelena Santic, bis zu ihrer Pensionierung Primaballerina am Nationaltheater, ist seit Jahren in der Friedensarbeit in Belgrad, Bosnien, Ost- und Westslawonien, Kroatien und auch im Kosovo aktiv. Sie kennt die psychischen Barrieren, die zwischen den einzelnen Menschen und dem Frieden in der Region stehen, aus vielen Gesprächen und Kursen mit Flüchtlingen und traumatisierten Kindern und Jugendlichen. Wer ihr zuhört, erfährt, in welchem Umfang die Nato auch späterem Wiederaufbau den Boden wegbombt, und wie sehr Politikerworte über die Wirklichkeit im ehemaligen Jugoslawien hinwegreden. Auch Joseph Fischers Wunschvorstellung, im Kosovo sollten Serben und Albaner wieder friedlich zusammenleben, muß Jelena Santic mit der Frage kommentieren »Aber wie?«. Vergangenes Jahr im April nahm sie Kontakt zu kosovarischen Friedensgruppen auf, wollte, daß serbische Frauen aus Belgrad gemeinsam mit kosovarischen Frauen für friedliche Konfliktlösungen demonstrierten. Die kosovarischen Frauen verweigerten sich dieser Idee mit dem Argument, sie würden damit ihre Integration in die kosovarische Gesellschaft verlieren, den einzigen Rückhalt, den sie überhaupt hätten. Einige Jahre zuvor hatte Santic ein solches sit-in mit Frauen verschiedener Herkunft und Zugehörigkeit in Kroatien organisieren können. Aber im Kosovo seien die Bindungen ans jeweils eigene Volk sehr viel stärker und zwingender als in anderen Teilen Jugoslawiens.
Vorschläge, Südosteuropa zu einer Konföderation mit verschiedenen Regionen zusammenzufassen, hält Santic für eine schöne Vision, warnt aber davor, den Nationalismus der einzelnen Gruppen zu unterschätzen. Sie hofft, daß Montenegro nach dem Krieg eine wichtige Rolle im ehemaligen Jugoslawien spielen werde und ein Neuanfang demokratischer Selbstbestimmung von dort ausgehe. Es sei eine Fehleinschätzung des Westens, sich so einseitig auf den Kampf gegen Milosevic zu konzentrieren. Auch wenn er nicht mehr an der Macht sei, gebe es deshalb danach noch keine einflußreichen und vernetzten demokratischen Kräfte. Sondern dann gebe es erstmal nur ein freies Feld. Und dieses Feld sei eben auch von den Nato-Bomben kahlgefegt. Unterstützung erhielten die Demokratie und Toleranz fördernden Nichtregierungsorganisationen (NGO) wie Jelena Santics Gruppe 484 bisher nicht von den Regierungen des Westens, sondern von Stiftungen und NGO aus dem Westen. Auch ein Antrag bei der OSZE sei erfolglos gewesen, berichtet Santic.
Sie fürchtet, der Westen wolle nach dem Ende des Krieges sein Modell von Demokratie und Marktwirtschaft auch auf ihr Land übertragen oder mit starker Präsenz betreiben. Kapitalismus erscheine dort jedoch nur als »Räuberkapitalismus«, ihre Landsleute bräuchten aber einen starken und sozialen Staat.
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