Frauenbiographien als neue Norm?

GERECHTIGKEIT ZWISCHEN DEN GESCHLECHTERN Aus dem Lippenbekenntnis im Koalitionsvertrag soll ein Reformprojekt werden

Am Schluss der Vorabberatung des frauenpolitischen Antrags für die grüne Bundesdelegiertenkonferenz in Karlsruhe standen zwei ernüchternde Aussagen: Die gebrochenen Erwerbsbiographien von Frauen sind Alltagsrealität der Zukunft für beide Geschlechter. Deshalb muss sich zukunftsfähige Politik an Frauen orientieren, nicht an Männern.

Konzipiert wurde der Antrag von den beiden Berlinerinnen Sibyll Klotz (MdA) und Regina Michalik (Landesvorstandssprecherin) sowie der frauenpolitischen Sprecherin des Bundesvorstands, Angelika Albrecht. Die drei sind der Kern der neugegründeten Gruppe "Lobby für Geschlechtergerechtigkeit". Sie wollen der grünen Bundestagsfraktion und Frauenministerin Christine Bergmann Fakten abfordern. Ziel ist es, wieder zum Koalitionsvertrag zurückzukehren. Mit langfristigen Prüfaufträgen und Dialogkreisen versucht die Bundesregierung derzeit, frauenpolitische Gesetzesinitiativen so weit hinauszuzögern, dass beispielsweise verbindliche Frauenförderung für die Privatwirtschaft kaum noch eine Chance hat, in dieser Legislaturperiode realisiert zu werden. Ob die drei sich innerparteilich durchsetzen, hängt davon ab, ob die zerbröckelte Allianz zwischen Linken und Feministinnen sich doch noch einmal findet.

Frauenförderung sei nicht Benachteiligten-, sondern Begabtenförderung, stellte Larissa Klinzing, Vorstandsmitglied der GEW beim Treffen der grünen "Lobby für Geschlechtergerechtigkeit" richtig. Eine Perspektive, die auch junge Frauen anziehen dürfte, die bisher oft die Nase rümpfen, weil sie nicht auf dem Benachteiligtenticket nach oben kommen wollen. Männlicher Widerstand gegen Begabtenförderung wird argumentativ erheblich schwieriger als gegen Benachteiligtenquoten. Ein neuer Name als sicheres Eintrittsbillet? Wohl kaum. Auf die Quote würden sie auch nicht verzichten, die bleibe wichtiges Instrument, beugte Klotz Missverständnissen vor.

Die einzelnen Punkte sind nicht das eigentlich Neue: gleiche Verteilung bezahlter und unbezahlter Arbeit auf Frauen und Männer, gerechtere Bezahlung, gerechtere Rentenbemessung, fairer Zugang von Frauen zu Arbeitsfördermaßnahmen, Anerkennung von Erziehungs- und Pflegezeiten bei der Sozialversicherung, verbindliche Frauenförderung für öffentlichen Dienst und Privatwirtschaft etc. Die geplante Reform des Arbeitsförderungsrechts soll ein frauenpolitisches Reformprojekt werden, hofft die grün-feministische Lobby. Ihr Ziel sind amerikanische Verhältnisse: Mindestens 35 Prozent Frauen in Führungspositionen - statt 22 Prozent höhere Arbeitslosigkeit bei Ostfrauen im Vergleich zu Ostmännern. - In den skandinavischen Ländern wurden erhebliche Fortschritte durch verbindliche Gesetzesvorgaben erreicht. Nur auf Dialog und freiwillige Selbstverpflichtungen zu setzen, wie es die Regierung Schröder macht, führe nicht weiter. Der Staat müsse Ziele vorgeben, forderte Sibyll Klotz zum Internationalen Frauentag.

Es gelte, entlang von Frauenbiographien neue gesamtgesellschaftliche Strukturen zu schaffen. Weniger als 50 Prozent aller Arbeitsverhältnisse sind noch "Normalarbeitsverhältnisse". Von der Politik verleugnete Norm ist schon heute die gebrochene Erwerbsbiographie. Frauen beweisen sich seit Generationen in diesem Geflecht aus formellen und informellen Arbeitsverhältnissen, partieller Selbstständigkeit, familiären Aufgaben und Weiterbildung als begabte Überlebenskünstlerinnen. Damit haben sie Männern Erfahrungen voraus. Zugleich kennen Frauen die Mängel des derzeitigen, noch an der Illusion der männlichen "Normalarbeitsbiographie" orientierten, sozialen Netzes aus schmerzhafter Erfahrung nur zu gut. Die Lobby fordert, das Stiefkind "gebrochene weibliche Erwerbsbiographie" als neue Norm anzuerkennen, um dann das System zu optimieren. Das heißt: Der Anteil der Frauen an bezahlter und an gut bezahlter Arbeit soll konsequent vergrößert werden. Reproduktive Arbeit soll rechtlich und versicherungstechnisch mit Erwerbsarbeit gleichgestellt werden. Die Übergänge zwischen Erwerbsarbeit und anderen Phasen sollen gefördert werden. Letztlich geht es um ein neuartiges soziales Netz für heterogen verlaufende Biographien. Insgesamt würde das Konzept Zukunftsangst bei beiden Geschlechtern begegnen.

Einen wesentlichen Nachteil hat der Antrag jedoch noch: Er bleibt der horizontalen Abfolge von Ausbildung, Arbeit/Weiterbildung, Rente treu, obwohl eine alternde Gesellschaft sich die Phase des reinen Ruhestands nicht mehr wird leisten können. Ohnehin war er immer nur das Privileg von Männern, nicht das von Hausfrauen.

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