Was heißt das: arm zu sein? Die Weltbank sagt: Weniger als einen Dollar pro Tag zu haben. Aber was heißt das wirklich? Mangel an Geld? An Rechten? An Sicherheit? An Hoffnung?
Selten erhält man so viele differenzierende Antworten wie in Henning Mankells erstem Roman namens Der Chronist der Winde. Er handelt von Maputo, der Hauptstadt Mosambiks. Nichts ist allgemeingültig, sondern jede Szene wird von anderen schattiert, gebrochen. Das ist es eigentlich: die radikale Absage an Vorurteil und Verallgemeinerung. Denn auch wer weniger als einen Dollar hat, kann reich sein wie der Straßenjunge Lelio. Allerdings bräuchten Lelio, Nascimento, Cosmos, Alfredo Bomba, Deolinda und das übrige Rudel halbwilder Kinder mehr als nur einen Dollar. Der Bäcker, der den sterbenden Nelio über neun Tage pflegt und neun Nächte lang seiner Geschichte lauscht, begreift: "Ich sah, wie die Armen gezwungen wurden, ihr Leben roh zu essen, da sie ständig an der äußersten Bastion des Überlebens kämpfen mußten."
Nelio selbst denkt, dass Ratten es besser haben als Straßenkinder. Beide, Straßenkinder und Rattenjunge, müssten auf der Straße leben, aber Ratten "hatten immerhin ihr Fell, wenn die Nächte kalt waren."
Mankell, der in Schweden geborene und in Maputo lebende Krimibestsellerautor, hat mit dem Chronist der Winde sein wohl lesenswertestes Buch geschrieben. Es ist ein Roman, der die Gerüche der Armut in die Nase und den Geschmack verfaulter Tomaten auf die Zunge zwingt. Aber zugleich erzählt dieser Roman, wie die Straßenkinder sich unter Nelios Führung Selbstwertgefühl und Verantwortungssinn erspielen: Sie machen sich sichtbar, indem sie tote Eidechsen als ihr Erkennungszeichen an Orten hinterlegen, die man ihnen versperrt. Sie inszenieren ein Geburtstagsfest und eine Illusion für den sterbenden Alfredo Bomba. Denn ein Geburtstagsfest heißt: Ich bin da. Ich bin wer.
Der neunjährige Nelio, schon jetzt ein alter Mann in einem ausgemergelten Körper, musste zusehen, wie sein Dorf bei einem Massaker niedergemetzelt wurde. Er schlug sich durch, landete in der Stadt und wurde einer der ungezählten Straßenjungen. Aber einer, der immer Ausnahmeperson blieb. Äußerlich und innerlich: Er schläft nicht wie die anderen in Pappkartons auf den Treppen des Justizpalasts, sondern er hat das letzte übriggebliebene Reiterstandbild aus der Kolonialzeit entdeckt und schläft unsichtbar für alle in dessen hohlem Bauch. Auch intellektuell distanziert er sich immer wieder vom Rudel, das nur für das Sattwerden in den nächsten Stunden lebt. Nelio reflektiert, was sie brauchen, was ihnen fehlt, wohin sie sich entwickeln. Er wächst über sich hinaus, kann für die anderen Welten erfinden. Die anderen Kinder der Bande entwickeln das Bewusstsein persönlicher Identität erst durch ihn. Ähnlich geht es dem Bäcker, der ihn pflegt und seine Rolle als Chronist der Lebensgeschichte Nelios findet, nachdem der sich in Rauch und Wind aufgelöst hat.
Ärgerlich ist jedoch das Ende dieses Romans: die Überhöhung des Helden, dessen Tod die Natur zum Erzittern bringt. Mankell präsentiert Nelios Lebensgeschichte wie eine neun nächtige Schöpfungsgeschichte. Wie Jesus hinterlässt der Anführer der Straßenkinderbande nach seinem Tod keinen Körper auf Erden. Ähnlich der biblischen Geschichte streunen die Freunde nach seinem Tod orientierungslos durch die Gegend und suchen ihn. Mit dieser zugeschriebenen Gottähnlichkeit zerstört der Autor am Schluss seinen Helden. Der menschlich war durch seine Sehnsucht nach dem Dorf und den Eltern, durch sein Bedürfnis nach Alleinsein. Der menschlich war, als er durch seine kindliche Unerfahrenheit nicht verhinderte, dass Nascimento die brutale Geltung der Hackordnung exekutierte und Deolinda vergewaltigte.
Aber das ist der Schluss. Zuvor kann man das Buch nicht aus der Hand legen, man ist so gespannt wie der pflegende Bäcker, will wissen, wieso das neunjährige Kind durch Schüsse verletzt und an Wundbrand sterbend auf der Dachterasse einer Bäckerei liegt. Mankell weckt Bilder, die sich in die Fantasie und die Gefühlswelt des Lesers einprägen, Bilder, die einem keine Ruhe lassen.
Die besondere Eindringlichkeit dieses Romans mag daran liegen, dass Mankell hier wenig erfindet. Das Theater, das sich unter anderem durch eine Bäckerei finanziert, gibt es wirklich - und Mankell schreibt Stücke für dieses Theater. Die Stadt ist wirklich voll von Straßenkindern, die mit ihren Geschichten buchstäblich auf der Straße liegen. Viel Zeitgeschichte dringt in die Geschichte der Stadt, des Theaters und Lelios ein: die Kolonisatoren, die Revolutionäre und vor allem die Banditen, die alle aus ihren Leben herausreißen, in die Flucht und auf die Straße werfen. Die Entwicklungshelfer, diese gutmeinenden Weißen, die viel weniger begreifen als die vermeintlichen "Niemandskinder", die Straßenkinder.
In Nelio, diesem in der Stadt gestrandeten Dorfkind, spiegelt und bricht sich die Geschichte Mosambiks. Deshalb ist der Bäcker so magisch in Bann gezogen von dem fiebernden Jungen: "Ohne dass ich es mir selber erklären konnte, wurde es für alle in der Stadt wichtig, daß Nelio auf dem Dach der Bäckerei lag, und dass er immer noch lebte. Die Geschichte, die er mir erzählte, war eine Geschichte, die uns allen gehörte."
So wie die Kinder sich durch das Aufsehen über ihre hinterlegten Eidechsen ihrer selbst vergewissern, soll Mankells Roman - geschrieben von einem Weißen, aber erzählt von einem schwarzen Chronisten, dem Bäcker - als Selbstvergewisserung eines Volks verstanden werden. Als ein Geschichtsbuch von unten. Aber was heißt das, wenn dann der Held sterben muss? Mankells Buch ist trotz dieses inneren Widerspruchs nicht pessimistisch. Weil die orale Tradition das Leben weiterträgt?
Ganz anders Die rote Antilope. Dieses Buch hat seine Längen, vielleicht auch, weil einige der Protagonisten so widerwärtig und borniert sind, dass es einen nur anekelt. Es ist die Geschichte von Molo. Eine gescheiterte Existenz, die sich als Insektensammler profilieren will, nimmt Molo aus der Kalahariwüste mit nach Schweden, wo er das schwarze Kind gemeinsam mit seinen Insekten ausstellt. Der Junge stirbt an seiner Sehnsucht nach warmem Sand unter seinen Füßen und nach Menschen, die ihn verstehen und die er versteht. Jede Hoffnung ist nur retardierendes Moment, das den unaufhaltsamen Weg in die Katastrophe letztlich aber beschleunigt: den Mord und den allmählichen Selbstmord.
Es ist ein trauriges Buch, das vor 130 Jahren spielt. Historie? Oder ist der Plot aktuell, wenn man an die vielen Dorfkinder Asiens denkt, die als Sexsklaven oder Kamelreiter in andere Länder verkauft werden? Mankell stellt diese Frage nicht, geschweige, dass er sie zuspitzte. Stattdessen rundet er die Geschichte Molos ab, wenn er seinen Erzähler 130 Jahre später in die Kalahari reisen läßt, damit er dort Nomaden die Geschichte Molos erzählt, ihn damit in übertragenem Sinne zurückbringt zu seinen Leuten und in seine Heimat, die Wüste.
Beide Romane handeln von kleinen Kindern, die ihre Situation durchschauen und Sterben als eine Handlungsoption in Betracht ziehen, die sie schließlich auch wählen. Diese Fähigkeit, derart selbst Verantwortung für das eigene Leben zu übernehmen, spricht man in Deutschland Kindern im Grundschulalter gern ab - obwohl die hohe Zahl von Selbstmorden schon in diesem Alter das Gegenteil belegen. Der im Süden lebende Autor zwingt durch seine Romane auch den Norden, diese Realität nicht zu leugnen, sondern zu sehen.
Henning Mankell: Der Chronist der Winde. Roman. Aus dem Schwedischen von Verena Reichel. Zsolnay Verlag, Wien 2000, 269 S., 36.- DM
Henning Mankell: Die rote Antilope. Roman. Aus dem Schwedischen von Verena Reichel. Zsolnay-Verlag, Wien 2001, 381 S., 42.- DM
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