... doch bald lernte ich Joni kennen und versuchte, den anderen zu vergessen, nur wenn ich frisches Brot roch, dachte ich noch an ihn, und jetzt mischt sich in meinen Nasenlöchern der Geruch von frischem Brot mit dem Geschmack des Feuers, das mir in meinem Kopf entbrannt ist, Arie Ewens (übers.: Löwe Steins) Kohlenaugen treffen mich wie Kugeln, und ich erzittere, er hat den Gang eines Jägers, den Blick eines Jägers, und ich sehe ihn den Gehsteig hinaufkommen, mein Körper hängt über seiner Schulter, in furchtbarer Hingestrecktheit, Fleisch und Pelz. Ich schlucke einen Schrei hinunter, springe auf und versuche, von dort wegzulaufen, wie Tiere im Wald, wenn sie Schießen hören, und erst auf der Hauptstraße fühle ich mich sicherer, zwi
Wider die Trostlosigkeit eines fehlerlosen Lebens
SPANNEND Zeruya Shalevs Roman "Liebesleben" begeistert trotz oberflächlicher Übersetzung
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er, zwischen all den Autos, und schon bin ich nah am Haus meiner Eltern, ich gehe hinauf zur Wohnung und die gärend verfaulenden Blätter auf den Stufen machen meine Ohren taub, vor nur einer Woche stand er hinter dieser Tür, als ob er dort wohnte, aber jetzt steht dort an seiner Stelle meine Mutter. Geh weg von hier, steigt mir Lust auf ihr zu sagen, das ist schon nicht mehr dein Ort, es ist seiner, seiner ...Das schreibt Zeruya Shalev in ihrem faszinierenden Portrait einer animalischen Intellektuellen, deren ansteckende Sinnlichkeit nicht nur in der israelischen Literatur ihresgleichen sucht. Diese Jerusalemer Studentin, Ja'ara, ist eine so kraftvolle Figur, dass sie selbst in der unsensiblen und teilweise falschen Übersetzung von Mirjam Pressler noch lebendig präsent ist. Aber dieser Roman hätte einer Übersetzerin wie Ruth Achlama bedurft. Pressler übersetzt Jahr für Jahr Unmengen von Kinderbüchern und Romanen, die literarisch viel weniger komplex sind als Zeruya Shalevs "Liebesleben".Das eingangs genannte Textstück etwa überführt Pressler durchgängig ins Imperfekt, unterschlägt damit nicht nur Dramatik und Unmittelbarkeit des Erlebens und Imaginierens, sondern auch eine wichtige Bedeutungsebene, von der noch zu reden sein wird. Erotische Steigerungen und Pointierungen übersieht sie ("jetzt mischte sich in meiner Nase der Geruch von frischem Brot mit dem des Feuers"): Shalev betont die Körperöffnungen, und Feuer auf der erogenen Zone Zunge ist um einiges stärker als Geruch in der Nase. Die Autorin spielt mit dem Namen Arie Stein, mal ist der sehr viel ältere Mann ein Leopard, dann ein Löwe, ein Tiger, dann der König der Kater - Pressler hätte deshalb die Bedeutung von "Arie" gleich zu Beginn erklären müssen (statt erst anlässlich eines expliziten Wortspiels auf S. 309); "Ewen", seinen Familiennamen, der in so unvereinbarem Gegensatz zu seinem Vornamen steht - ein konstitutives Element des Plots -, übersetzt Pressler gar nicht. Shalev aber betont schon in den ersten Sätzen des Romans, dass Ja'ara gerade von diesem Gegensatz erotisch in Bann geschlagen wird, von seinem großen grauen Mund. Weshalb ist ein Mund grau, und was ist daran erotisch? Die deutschen Leserinnen brauchen sich diese Frage gar nicht zu stellen, denn in Presslers Übersetzung taucht das Wort "grau", dieses indirekte Zitat des Stein-Charakters, überhaupt nicht auf. Pressler übersetzt auch nur, dass Aries Körper jugendlich ist, aber nicht das Erstaunen und die Faszination, die dies bei Ja'ara auslöst. Die Autorin legt jedoch durch ihren Satzbau darauf den Fokus. Doch zurück zur ersten Textstelle: Die Fassungslosigkeit angesichts des imaginierten Jägers und Opfers kommt bei Pressler jeder Sinnenhaftigkeit bar so daher: "ich sah ihn vor mir, auf dem Gehsteig, mein Körper hing wie tot über seiner Schulter. Ich unterdrückte einen Schrei". Durch eine Umstellung ebnet sie dann die lodernde Emotionalität Ja'aras noch weiter ein: "Ich hatte Lust, zu ihr zu sagen, geh weg, du gehörst nicht mehr hierher, das ist jetzt sein Platz".Wie subtil die Machtspielchen der leicht perversen und oft auch urkomischen Beziehung zwischen dem mal sadistischen, mal liebevoll, sensibel und verletzlichen Arie Stein und der verheirateten Studentin sind, scheint der Übersetzerin gar nicht bewusst, sie übersetzt beispielsweise "Kontrolle" nur, wenn es explizit so im hebräischen Text steht. Als Ja'ara in einem Bekleidungsgeschäft heimlich in Aries Umkleidekabine schlüpft und gierig an dessen Hose schnüffelt, sie anzieht und Arie wieder in seine Kabine will, schreibt Pressler "aber das ist doch meine Kabine" als ginge es um den Ort. Im Hebräischen wird aber Aries Dominanzanspruch betont: Ich messe hier - und in der Tat misst er hier nicht nur seine Hosen an, sondern er prüft in der Enge des Raums und nur durch die Kabinentür von seiner Freundin abgeschirmt sofort und sehr handgreiflich Ja'aras Verführbarkeit, zwingt sie, seinen Schwanz zu messen.Aber obwohl in der Übersetzung sehr viel verloren ging, fesselt der Roman der 1959 geborenen Bibelwissenschaftlerin, Verlagslektorin und mehrfach mit hohen israelischen Literaturpreisen ausgezeichneten Zeruya Shalev von Anfang bis Ende. Die Autorin macht Szenen fühlbar und riechbar, sie legt falsche Fährten, schafft grelle Situationen: Arie, der Jugendfreund von Ja'aras Vater, nimmt "Kormanns Tochter" mit zu einem dritten Freund ihres Vaters. Ohne die Frau überhaupt zu fragen, wird daraus ein Dreier, danach klärt der bereits angezogene Arie, der seinen Kick hatte, beiläufig Ja'ara und Schaul über die Identität des je anderen auf. Oder: Während Arie, Freunde und auch Ja'aras Eltern nach dem Tod von Aries Frau sieben Trauertage Schiwa sitzen, liegt Ja'ara eingeschlossen nebenan in Aries Bett. Klar ist schon auf den ersten Seiten, dass nicht nur Kormann, sondern vor allem Ja'aras Mutter eine Beziehung mit Arie gehabt haben muss. Lange vermutet man, Arie würde sich den Reiz einer inzestuösen Beziehung gönnen, aber das Geheimnis ist ein anderes.Neben diesem Strang magischer Verfallenheit und mehrfacher Fluchten Ja'aras steht ihr Ringen um eine These für ihre Dissertation in Bibelwissenschaften. Intellektuell herausgefordert wird sie durch Geschichten über Menschen aus der Zeit der Zerstörung des Tempels. Erzählungen, die ihre Mutter ihr als Kind vorlas. Der alttestamentarische Gedanke des Fehlers, der Schuld und der Strafe bilden damit den Bezugspunkt, der die Beziehungsgeschichten zusätzlicher Spannung aussetzt: Welche Strafe erwartet sie, wenn sie ihren langweiligen Ehemann Joni wegen Arie verlässt? Wird sie alles verlieren, ihr ganzes Leben zerstören? Welche Schuld lädt sie mit diesem Verhältnis auf sich? Ist die Unzufriedenheit ihrer Mutter die Strafe für einen Fehler? Man dürfe im Leben keinen Fehler machen, sonst werde man es sein Leben lang büßen - aber wie können das Leben und die Verheißung von vernünftigem Glück von Ja'ara verlangen, Don Pedro treu zu bleiben, wenn Don Giovanni vor ihr steht?Der Roman stellt das intellektuelle und emotionale Aufbegehren der jungen Frau gegen die Gültigkeit dieses alttestamentarischen gesetzesähnlichen Satzes dar. Wer sagt, was ein Fehler ist, was Schuld ist, wer Schuld auf sich lädt? Hatte wirklich die Tochter schuld, die sich vor der Zerstörung des Tempels taufen ließ, um die Seele des Vaters zu retten? Waren wirklich die Ehebrecherin schuld und ihr neuer Mann? Oder war der eigentlich Schuldige der Ehemann, der seine Frau zum Geldverleiher schickte, statt selbst zu gehen, und sie dann verstieß? Ist Ja'ara die Ehebrecherin, oder ist ihr tumber lieber Ehemann mitschuldig - oder ist diese traditierte Interpretation falsch und untauglich? In Israel, wo vor allem im Ehe- und Familienrecht das rabbinische Recht neben dem staatlichen seine Gültigkeit hat, wo orthodoxe Frauen wie im islamischen Fundamentalismus jeden Reiz verbergen müssen, weil sie auch als personifizierte Verführung und Sünde interpretiert werden, in Israel, wo orthodoxe Männer ihre Ehefrauen verstoßen können, indem sie dreimal über deren Schulter spucken - in diesem Land ist eine Position, wie sie Zeruya Shalevs Heldin entwickelt, unter feministischen Gesichtspunkten revolutionär. Der Roman ist ein Plädoyer für Menschlichkeit, Gefühle zuzulassen, Wagnisse einzugehen, eine Absage an rigide Normen und Interpretationsmuster.Genau diese Aussage unterschlägt jedoch die Übersetzung Presslers: Sie überführt den Text bis zum letzten Satz ins Imperfekt. Damit erhält die Geschichte die Botschaft: Die vernünftig gewordene Ja'ara ließ sich am Schluss in der Bibliothek einschließen, trennte sich von Arie, auch von Joni, der für ein Kind, den Kauf einer Wohnung und damit, so präsentiert es Shalev, ereignislose Bürgerlichkeit stand, um sich ausschließlich ihrer Dissertation zu widmen. Die Monate, seit sie Arie zum ersten Mal sah, rollen wie ein innerer Monolog vor der - in jener schon vergangenen Nacht - geläutert in der Bibliothek sitzenden Heldin ab. Die Übersetzung Presslers macht aus dem feministisch-rebellischen Roman einen zum patriarchalisch-religiösen und außerhalb Tel Avivs vielfach dominanten israelischen Zeitgeist affirmativen Text. Das hebräische Original dagegen schlägt sich durch die Komposition und durch die signifikante Verwendung von Präsens und Imperfekt auf die Seite Ja'aras, die als Schulkind, gefragt nach einem inneren Organ, die Seele nannte. Sie sitzt in der Bibliothek, erkundet die Ambivalenz des Lebens zur Zeit der Zerstörung des Tempels, und die Tatsache, dass die Faszination der Glut von Kohlenaugen ebenso abrupt im Präsens steht wie die Angst, dass Joni, mit der Schlinge um den Hals in der Wohnung auf einem Schemel, diesen Hocker jetzt, jetzt im Moment unter sich wegstößt, diese Tatsache lässt erwarten, dass Ja'ara diese drei Stränge - Intellekt, Abenteuer und Beziehung - künftig mit welchen Personen und wie auch immer verbinden will. Im Original deutet nichts darauf hin, dass die Frau ihre faszinierende Animalität von sich abkappt.Zeruya Shalev, Liebesleben, Roman, Aus dem Hebräischen von Mirjam Pressler, Berlin Verlag, Berlin 2000, 368 S., 39,80 DM.
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