Bekannt ist, dass Wolfgang Clement Schröders Notnagel ist. Berechenbar war, dass Clement nach wie vor, trotz neuer Imagekampagne als sozial verantwortlicher Ministerpräsident, in der Praxis hochgradig cholerisch, unberechenbar reagiert. Dass Schröder ihm trotzdem einen Anlass - aber keinen Grund - zum politischen Amoklauf bot, offenbart, dass der Kanzler keinen Handlungsspielraum mehr hat. Auf der einen Seite zwicken ihn die Grünen, auf der anderen zwacken ihn die Parteirechten, die viel lieber eine Große Koalition hätten. Schröder ist angezählt, denn mit Wahlergebnissen um die 30 Prozent fehlt der SPD jede Regierungsoption. In dieser Situation verlieren politische Inhalte jeglichen Stellenwert. Insider berichten von einer Übereinkunft im Kabinett, fortgeschrittene Projekte des jeweiligen Partners in nächster Zeit auf keinen Fall zu stören, so falsch und kontraproduktiv Teilaspekte auch sein mögen, damit nur ja die Koalition als regierungsfähig erschiene. So bekamen die Grünen das vermeintliche Zückerchen Ökosteuer und Clement ein winziges Krötchen. Auf Seiten der SPD ist das nächste Opfer, ein Kabinettsmitglied, bereits identifiziert. Es hat, so wurde signalisiert, auch eingewilligt.
Doch der künstliche Burgfrieden nutzt nichts. Denn die Medien verfolgen Scharpings Sticheleien, Clements unsinnige Attacke und die dahinter liegende Überlebensangst Schröders und Clements. Der nordrhein-westfälische Ministerpräsident hat sich und die SPD in eine Situation gebracht, in der beide nichts gewinnen können, dafür aber Wähler verlieren werden, selbst wenn am 26. November ein Scheinmanöver im Bundesrat inszeniert würde, dessen Ergebnis der Bundestag später zurückwiese. Selbst wenn Clement trotz des dann nur scheinbaren Putschversuches gegen den eigenen Kanzler Anfang Dezember zu dessen Stellvertreter in der Partei gewählt wird. Zu offenbar wäre, dass hochrangige und teure Verfassungsgremien instrumentalisiert würden, um zwei zerstrittenen Männern am Rande des Karriereabgrunds das Gesicht wahren zu helfen. Anders als Klimmt wird Clement dieser Parteiungehorsam keine Wählerstimmen bringen. Was immer politisch vor den Landtagswahlen am Rhein beschlossen wird, es wird ihnen geschuldet sein. Das Überlebensinteresse einer Partei bestimmt die Politik, nicht mehr der Kanzler.
Das wäre für die Grünen eine günstige Stunde, Politik zu machen. Sie sind in einer strategisch durchaus komfortablen Situation, denn bei der Ökosteuer, den Rüstungsexport richtlinien und dem Atomausstieg können sie auf den Koalitionsvertrag pochen und gegebenenfalls die SPD als Vertragsbrecher an den Pranger und vor höchst unerwünschte Neuwahlen stellen. Würden sie aus politischen Gründen die Koalition platzen lassen, gewännen sie Wähler dazu. "Wir haben nichts zu fürchten", sagte Montag ein Linker, schränkte allerdings sofort ein, "niemand, außer uns selbst, denn wir haben ja Leute, die statt über eine niedrige Latte zu springen, trotzdem darunter durchkriechen". Ein paar Stunden nach diesem Diktum erklärte Joseph Fischer am Montag der pazifistischen Basis zum Gräuel, die WEU brauche die "nötige hardware", um ihre Rolle zu spielen.
Diese Basis jedoch spielt keine Rolle mehr, sie verlässt inzwischen "freiwillig" den Schauplatz. Ein paar Tage vor dem grünen Programmkongress in Kassel (19.-21.) hört man nicht nur bei basisgruen, sondern auch bei Bundestagabgeordneten: Es ist Parteikongress, aber wir gehen nicht hin. Die Bundesdelegiertenkonferenz in Suhl hatte vor drei Jahren eine Programmüberarbeitung beschlossen, an der Fischer partout kein Interesse hat, zumal Magdeburg zeigte, dass selbst die Realos der Bundestagsfraktion für Fischers wendige Politik zu radikale Positionen in Programme schreiben, wie etwa den Fünf-Mark-Beschluss. Selbst Abgeordnete sprechen von einem "Ministerialkongress": Die drei Minister erklären in drei Vorträgen ihre Weltsicht. Es solle geradezu verhindert werden, schimpfen die Linken, dass die Partei ein eigenständiges Profil trotz Regierungsverantwortung entwickle, sonst hätte man den Bundesarbeitsgemeinschaften den Strategiekongress als Plattform geboten. Über Themen - "Perspektiven einer europäischen Friedenspolitik" - wird gesprochen, statt, wie es etwa Annelie Buntenbach fordert, zu diskutieren, ob und wie Grüne noch bereit sind, sich Rüstungsgeschäften in den Weg zu stellen und wie man weitere Militäraktionen vermeidet.
Als Resignation wird allgemein interpretiert, dass die beiden Parteisprecherinnen Antje Radcke und Gunda Röstel sich mit der Rolle abfinden, zwei Blumentöpfen gleich die Veranstaltung der Minister mit nicht mehr als einem Gruß- und einem Schlusswort zu dekorieren. Bundesgeschäftsführer Reinhard Bütikofer hat, nach fehlgeschlagenen Versuchen, sich mit Ralf Fücks Hilfe politisch "eigenständig" zu machen, und im Wunsch, auch nach der Strukturreform einen Job zu haben, den Weg zurück gesucht und als Fischers Hilfsarbeiter einen PR-trächtigen Kongress organisiert, der die vermeintliche Überflüssigkeit des Bundesvorstands (BuVo) demonstrieren soll. Auf dass die nächste Strukturreform den BuVo abschaffen könne.
Der Durchmarsch der Realos, den Fischers Mann in Düsseldorf, Rainer Priggen, bei den Kandidatenaufstellungen für die NRW-Landtagswahl am vergangenen Wochenende nicht durchsetzen konnte, ist derzeit auf allen Parteiebenen vorrangiges Projekt Fischers. Ein enormer Kraftakt. Aber einfach die Partei zu wechseln, was inhaltlich naheläge, würde Fischer die Anführer-Rolle kosten. In jeder anderen Partei wäre er nur ein Ministeranwärter unter vielen.
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