Es fährt und arbeitet

Doku Thomas Heise reist durch seine Familiengeschichte: „Heimat ist ein Raum aus Zeit“
Ausgabe 39/2019

Es ist die Zeit der dokumentarischen Porträts von Familien, deren Namen in der DDR bekannter waren als in der BRD der Gegenwart: Brasch (Familie Brasch, Annekatrin Hendel, 2018), Gysi (Der Funktionär, Andreas Goldstein, 2018), Heise (Heimat ist ein Raum aus Zeit, 2019). DDR-Nomenklatura, wenn man so will; allerdings ist aus den drei Filmen auch zu lernen, dass Prominenz, Karriere, Loyalität, Verrat et cetera sich in den entsprechenden Familien sehr unterschiedlich figuriert haben und nicht in derselben Form zu erzählen sind.

Die Dokumentarfilme von Hendel, Goldstein, Heise sind Filme über Figurenkonstellationen und Typologien. Väter und Söhne, Söhne und Mütter, ältere und jüngere Brüder, Ehemänner und Ehefrauen, Geliebte und Getrennte, und immer wieder: die Lebenden und die Toten, die etwa in Hendels Rekonstruktion einer familialen Selbstzerfleischung Zug um Zug aus dem gemalten Familienbild verschwinden und in Goldsteins stiller, verhaltener Reminiszenz nicht einmal dort wirklich sichtbar werden, wo sie vor die Kamera treten.

Thomas Heise ist der Sohn der Romanistin Rosemarie Heise und des Philosophieprofessors Wolfgang Heise, der an der Humboldt-Universität zu Berlin utopisches Denken lehrte und zu seinen Schülern Rudolf Bahro und Wolf Biermann zählte. Heimat ist ein Raum aus Zeit wird nicht gefilmt, um Figuren verschwinden oder auftreten zu lassen. Oft genug ist das Gefilmte menschenleer und dort, wo nicht menschenleer, keinesfalls dazu gemacht, dass Figuren darin eine Form annehmen, die über den Transit oder die Momentaufnahme hinausginge.

Einmal verabschieden sich zwei; zweimal zieht einer den Blick der Kamera für eine Weile auf sich; aber die Protagonisten des Familienromans existieren in anderen Medien: Fotos, Manuskripte, Typoskripte; Schulaufsätze, Tagebucheinträge; Listen, Stellungnahmen, Entwürfe zu Lebensläufen; Briefe. Briefe vor allem.

Es ist ein Film, der sich mit Geschriebenem befasst, und zwar mit Geschriebenem in einem ungewöhnlich breiten Spektrum, das fast durchgehend als ein Schreiben ad personam zu denken ist. Das gilt, offensichtlich, für die Briefe, die Tagebucheinträge. Aber auch für den Schulaufsatz des Großvaters Wilhelm Heise, der als Pädagoge später an der Schulreform der SBZ mitarbeiten wird, aus dem Jahr 1912, dessen allerletzte Sätze wie die Konzession an einen antizipierten Leser anmuten. Für die Stellungnahme wider eine Zwangspensionierung 1934, für eine mehrfach beschriftete Kinderzeichnung aus den 1950ern, für Graffiti an kaputten Wänden, für die handschriftlichen Einträge in Fotoalben. Und letztlich auch für die Namen und Adressen von Familienmitgliedern wie der Wiener Großmutter in den Deportationslisten aus dem Winter 1941/42, die mit feinen roten Linien unterstrichen sind.

Verzicht auf Bilder

Wollte man ausgehend von Heimat ist ein Raum aus Zeit eine Definition versuchen, dann könnte diese lauten: Das Geschriebene ist der Text in jenem Zustand, in dem der Bezug zur Person und zur singulären Existenz markiert bleibt. Umso auffallender ist es, dass Heise weitgehend auf zwei Verfahren verzichtet, die zum Standard dokumentarischer Personen-Inszenierung gehören. Das eine wäre die Bebilderung: Der Film verwendet Fotos, aber er verwendet sie sparsam und durchweg in einem gewissen Abstand zu dem, was in den Briefen, Berichten, Selbstzeugnissen ausgesagt wird. Das zweite wäre die Personalisierung durch den Einsatz diverser Stimmen, die nicht zu hören sind, weil alle Schriftzeugnisse von Thomas Heise selbst vorgelesen werden. Erstaunlicherweise erscheint dies nicht als Geste der Aneignung, sondern als die Markierung einer temporären Zuständigkeit. Für das Material, für die Lektüre. Nicht unbedingt für die Rolle des Erzählers, zumal der Film den Modus der Lektüre und der Betrachtung so eindeutig präferiert.

Zwischen der Lektüre und der Betrachtung, der Vergangenheit und der Gegenwart bleibt eine Distanz eingezogen, als gelte es zu vermeiden, dass die Erzählung zu schnell abbindet oder das disparate Material zu dicht verklebt. Was aus der Vergangenheit kommt (Foto, Zeichnung, Brief, Aufsatz, Liste), wird in Farbe gefilmt, was der Gegenwart angehört, in Schwarzweiß. „Klare Bilder“, hat Heise in einem Interview über diese schwarzweißen Aufnahmen gesagt; aber in den Bildern seines Films ist viel Gestöber. Regen, Schatten, Flocken; dazwischen Landschaften unter Schneedecken oder Nebel; Unschärfe hinter beschlagenen Scheiben; viel Kontur, die im Ungefähren belassen wird.

Mehr als darum, die Verbindungen auszugestalten, muss es darum gegangen sein, sie gegenwärtig zu machen. Hier geschieht dies vor allem durch Fahrten und durch allerlei Geräusche, von denen Fahrten und Landschaften durchsetzt sind. Es wird viel gefahren in diesem langen Film, mit der Kamera, in Autos, in Straßenbahnen; Züge werden aus verschiedenen Perspektiven gefilmt; Fahrgeräusche an Bahnhöfen aufgenommen, und während es so fährt und arbeitet und in Gang bleibt, arbeitet es zugleich auf der Tonspur, jenseits artikulierter Lektüre, die nur ein Weniges erfasst, mit dem Wenigen aber sehr vieles eröffnet hat. Einen Raum, der aus Zeit besteht; warum nicht? Ein irritiertes Verhältnis zur Geschichte, zur Recherche. Eine andere Idee von Kinematografie, die aus der Bewegung mindestens ebenso sehr wie aus dem Zeigen besteht.

Info

Heimat ist ein Raum aus Zeit Thomas Heise Deutschland 2019, 218 Minuten

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