Hände von gestern

DOK Ist Arbeit filmbar? Und wo kommen plötzlich all die Frauen her? Ein paar Fragen vom Leipziger Filmfestival
Ausgabe 45/2018

Im letzten Jahr hatte das Dokumentarfilmfestival Leipzig ein kleines Problem mit der Quote. Genauer: ein Problem, weil sich ohne Quote oder andere korrektive Maßnahmen ein gewisses Missverhältnis (9:1) zwischen den Regisseuren und Regisseurinnen hergestellt hatte, die im Deutschen Wettbewerb vertreten waren. Dass das Verhältnis in diesem Jahr viel besser sei und der Anteil von Regisseurinnen in den zentralen Wettbewerben bei 50 und mehr Prozent liege, ist nun im Vorfeld von DOK Leipzig vielleicht ein Mal zu oft betont worden. Und ein Mal zu oft war der Hinweis mit der Ergänzung verknüpft, dass dies kein Effekt der neuen Quote, sondern, selbstverständlich, allein der Qualität der Filme geschuldet sei.

Dass man es, wie man es macht, nicht recht und nicht richtig machen kann, so lange Förderungen und Aufmerksamkeit nach bislang geltenden Prinzipien verteilt werden, gehört zu den Realitäten, mit denen das Team um Festivalleiterin Leena Pasanen konfrontiert ist. Über Inegalitäten, auch im marginalisierten und daher etwas durchlässigeren Arbeitsfeld des Dokumentarfilms, erzählt dies mehr als über die Arbeit der Auswahlkommission, die sich seit dem letzten Jahr um profilierte jüngere Filmemacherinnen und Kuratorinnen erweitert und damit begonnen hat, den eigenen Spielraum innerhalb des Festivalbetriebs noch einmal zu überprüfen.

Die Filme im Internationalen Wettbewerb des Festivals teilen sich weitgehend in zwei Kategorien. Auf der einen Seite die Kartografien, in denen Wirtschafts- und Stadträume erkundet werden: von den großräumigen Industrielandschaften in Charleroi (Belgien) und On the Water (Kroatien) bis zu der präzisen Mikrografie Die Tage wie das Jahr (Österreich), in der Othmar Schmiderer die Arbeitsabläufe auf einem Bauernhof im Waldviertel protokolliert. Auf der anderen Seite die individualisierten Suchbewegungen, die häufig sehr private sind (nach einer Mutter, einer Schwester, einem Ordnungsprinzip). In dem klugen, spröden Gewinnerfilm I Had a Dream (Italien) der Filmemacherin Claudia Tosi sind es indes dezidiert politische.

Wie politische Arbeit erfahren wird, warum (und ob überhaupt) man sich noch mit Politik befassen sollte, wie sich die Perspektiven des politischen Engagements in einem Jahrzehnt zwischen der dritten Wiederwahl Silvio Berlusconis und dem zweiten Jahr der Ära Trump verzerrt und verändert haben, sind die Fragen, die Tosi in ihrer Langzeitstudie zweier ernüchterter, erschöpfter Frauen stellt. Beide sind Politikerinnen, beide sind mit dem Schutz von Frauen und sehr konkreten Themen der Gleichstellung befasst, was sie im Rahmen des diesjährigen DOK Leipzig zweifellos zu designierten Heldinnen macht, nur sind die Heldinnen hier sehr müde, die Gesichter fahl, die Versammlungen ausgedünnt, die Bilder ausgewaschen und der Schnitt programmatisch fahrig, als gelte es, die Auflösung einer politischen Ordnung auch ästhetisch zu markieren.

Mobbende Vlogger

Es ist viel Welt im Programm des 61. DOK Leipzig; aber wo diese Welt geordnet, funktional erscheint, wie in den zahlreichen Filmen über Arbeitsabläufe und Arbeitswelten, ist die Ordnung nur um den Preis einer gewissen Einschränkung zu haben. Ein grundsätzliches Interesse an der Kinematografie der Arbeit (auch: ihrer kritischen Investigation) ist in Leipzig von jeher Teil des Programms. Aber erst in diesem Jahr fällt auf, wie oft die Darstellbarkeit von Arbeit inzwischen mit anachronistischen Szenarien verknüpft ist: Hände, Werkzeuge, Fertigkeiten; Arbeit als physischer Prozess, der den Körper fordert, aber nicht zerstört (Der Stein zum Leben, Deutschland); gelassene Routinen (Bojo Beach, Österreich) und Zyklen, die durch nichts anderes als den sogenannten Kreislauf der Natur reguliert sind (Die Tage wie das Jahr,Österreich).

Gegen die Anachronismen, und: den Konsens, der auf diesem Filmfestival viel größer ist, als in den meisten Nachgesprächen deutlich wird, hat die Auswahlkommission in diesem Jahr unter anderem einen Beitrag gesetzt, auf den sich am Ende auch die Jury des Deutschen Wettbewerbs verständigen konnte. Wie lange sie dafür gebraucht hat, lässt sich nur vermuten. In jedem Fall ist der deutsche Beitrag Lord of the Toys, in dem Pablo Ben-Yakov und der hochbegabte Kameramann André Krummel eine Gruppe von Youtubern aus Dresden porträtieren, jener Film, der wie kein anderer lange Debatten über die Rolle der Filmemacher und über die Funktion des dokumentarischen Blicks getriggert hat.

Durch die Welt, die in Lord of the Toys aus Vlogs und Klickzahlen, aus exzessiver sprachlicher Gewalt, dem ebenso exzessiven Umgang mit Alkohol, Mobbing und dem Flirt mit rechten Milieus besteht, bewegt sich die Kamera reaktiv, in unbestimmter Nähe zu den Selbstdokumentationen, die von den Bloggern selbst ins Netz gestellt werden. Mimetisch ist das Blickverhältnis nicht, komplizenhaft ist es durchaus: Man muss das nicht mögen, aber man sollte es sich ansehen.

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