Hoffnung: Es gibt sie

Kino Stéphane Brizé hat Guy de Maupassants „Ein Leben“ auf elegante und vielversprechende Weise verfilmt
Ausgabe 21/2018

Der Regisseur Stéphane Brizé interessiert sich für traurige Menschen. Dass er sie ernst nimmt, sieht man daran, wie er sie betrachtet: aufmerksam, anhaltend, ohne viele Blickbewegungen und noch in den sehr nahen Einstellungen mit Sinn für Dezenz. (Die halbnahen kommen häufiger vor.) Dass die Traurigen Brizés Sympathie haben, ist deutlich. Dass er sie dennoch unterschätzt, verrät sich dadurch, dass ihnen fast immer etwas zu viel Story beigegeben ist: Vorgeschichten und Familienromane; Verletzungen, die nicht in der Andeutung verbleiben; auserzählte Enttäuschungen.

Das gilt zumindest für die frühen Filme. Die Konflikte zwischen den Vätern und den Söhnen in Man muss mich nicht lieben (2005), der familiale Druck und die Verweigerung in Mademoiselle Chambon (2009); die Entwicklung, die durch den Tanz oder die Musik in Gang gesetzt wird; das Glücksbegehren, das in beiden Filmen auf sehr konventionelle Widerstände trifft.

In Der Wert des Menschen (Freitag 11/2016), der Brizé eine Reihe von Nominierungen für Preise und Vincent Lindon einen César als bester Hauptdarsteller eingebracht hat, ist das nicht grundsätzlich verändert. Aber die Figur wird doch mit weniger Vermittlung in ihr Umfeld gestellt, die Welt der Widerstände ist formalisierter, der Blick von der Individualität des Unglücks ein wenig abgehoben und mit den Strukturen befasst, denen der Protagonist auf seiner Suche nach Arbeit begegnet.

Ein Leben, der jetzt in die deutschen Kinos kommt und den Brizé schon 2016 nach der Vorlage des gleichnamigen Romans von Guy de Maupassant gedreht hat, ist den vorangegangenen Filmen in vieler Hinsicht nah. Das kleine Leben, die sehr kleine Welt, die hier meist in das Format 1:1,33 eingeschlossen wird (ansonsten viel Handkamera). Das Glücksverlangen, dessen Konflikt mit der Welt nicht darin besteht, dass diese zu eng wäre, sondern dass sie nicht gut eingerichtet ist. Die Stummheit der Protagonistin, die, wie alle Hauptfiguren des Regisseurs, nicht dazu gemacht ist, zu sagen, was sie leidet, und das Leid vielmehr sehr still erduldet; mit drei Ausnahmen, von denen die erste memorabel sein wird („Laisse-moi!“), die zweite erstaunlich artikuliert und die dritte so verzweifelt, dass sie das Ende aller Hoffnung zu bezeichnen scheint.

Spektakuläre Jahreszeiten

Hoffnung: Es gibt sie, in jeder Geschichte, die der französische Filmemacher bisher erzählt hat. Aber sie zu erfüllen oder zu zerstören, ist nicht die Sache der Filme, die stattdessen mit Zuständen befasst sind. Im Fall von Jeanne Le Perthius (Judith Chemla), die um 1815 in einem französischen Konvent erzogen wird und kurz darauf den ersten Mann heiratet, in den sie sich verliebt, sind dies der Zustand eines sehr kurzen Glücks und die Zustände des großen Unglücks, die über die Stufen von Einsamkeit, Ungläubigkeit, Erstarrung, Elend sehr sorgfältig moduliert werden.

Ein Leben ist, so betrachtet, vor allem ein Film der Transformation: von der reinen, ahnungslosen Erwartung, in der die Figur zu Beginn verharrt, bis zu der beinahe irren Verzweiflung nach 20 Jahren eines Lebens, das denkbar einfach gewesen sein wird und das der Hauptfigur nicht viel erspart hat.

Der bislang eleganteste Film im Œuvre von Brizé ist Ein Leben zweifellos. Langsam, wie die Filme vor ihm, aber aus der Stasis befreit, die noch in den Bildern von Der Wert des Menschen waltet. Die Geschichte der Jeanne Le Perthuis erzählt er in Ellipsen (sehr klugen), in Vor- und Rückblenden und in wiederkehrenden Aufnahmen, die davon zeugen, dass dieser Film die Zustände des Glücks und Unglücks kopräsent sieht, das heißt: gleich gegenwärtig und aufeinander bezogen. Dass die Zustände mit Jahreszeiten verknüpft werden und die Jahreszeiten an der Nordküste Frankreichs zwar spektakulär, aber auch etwas aufdringlich sind, ist ein Aspekt, den man den Bildern (Kamera: Antoine Héberlé) anlasten oder nachsehen kann.

Wo man ihn nachsieht, tritt deutlicher zutage, was die Qualität des Werks von Stéphane Brizé ausmacht. Ein skeptisches Verhältnis zum Dialog. Eine distanzierte Aufmerksamkeit. Ein intelligenter, produktiver Umgang mit Konventionen. Eine gelassene Cinephilie, die mit dem Film Ein Leben vielleicht erst begonnen hat.

Info

Ein Leben Stéphane Brizé Frankreich/Belgien 2016, 119 Minuten

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