Das Verhältnis des Kinos zum Ballett ist gespalten. Einerseits Triumph (Billy Elliot), andererseits Destruktion (Die roten Schuhe, Black Swan) und nur sehr selten der Betriebsalltag, wie Robert Altman ihn mit The Company (2003) versucht oder Frederick Wiseman mit der Dokumentation La Danse (2009) realisiert hat. Triumph mit Destruktion geht auch; tatsächlich ist dies sogar der zentrale Topos in der Filmerzählung von der Tänzerin (meist ist es eine Tänzerin), die geformt und geschunden wird, damit ihr am Ende nichts mehr anzusehen ist. Nicht die Arbeit, die das Tanzen bedeutet, und erst recht nicht die Qualen, die mit der Arbeit verbunden sind.
Filme über das Ballett sind also Filme über Körper. Konsumistisch, weil diese Köper meist sehr schön und erstaunlich leistungsfähig sind. Sadistisch, weil die Leistung mit einer zweifachen Zumutung verbunden ist: der Zurichtung an der Stange oder auf der Bühne – und dem Gebot, dieser Zurichtung nie anders als lächelnd zu begegnen. Das Diktat der Anmut macht vor den Gesichtern nicht halt, weshalb Ballettfilme eine gewisse Affinität zur Großaufnahme haben, immer auf der Suche nach dem, was die Gesichter unfreiwillig preisgeben. Die Spuren der Anstrengung. Die Anspannung, der Schmerz.
Der Film Girl (2018), klug und verstörend, hat ein diffiziles Verhältnis zu dieser kinematografischen Tradition. Großaufnahmen ja, doch sind dies meist Aufnahmen, die dazu gemacht sind, zu zeigen, dass dem Gesicht der Hauptfigur sehr wenig abzulesen ist. Es gibt viele Großaufnahmen in Girl und meist ist ihr Gegenstand nicht das Drama, das sich auf dem Gesicht abspielen könnte, sondern die Beherrschung, die daraus eine Oberfläche macht, die sich sorgfältig nach außen verschließt, Lächeln stets inbegriffen.
Heimliche Hormondosen
Laras Lächeln: zu Hause, in der Umkleide, im Saal, bei den ärztlichen Beratungen, ist der Modus, in dem sie mit ihrem Umfeld kommuniziert. Lächeln, um geliebt, aber auch: um in Ruhe gelassen zu werden. Lächeln als Kontrollanzeige in einem Szenario des maximalen Drucks, in dem fast alle etwas von Lara und von ihrem Körper wollen, sie selbst am allermeisten, und in dem der Körper diesem Druck nicht standhalten kann. „Du solltest dich nicht zu sehr auf dein Aussehen konzentrieren“, sagt der nette psychologische Berater, was unter den Umständen ein guter und zugleich ein völlig unbrauchbarer Ratschlag ist.
Die Umstände: die Ballettschule, die Pubertät, das Projekt, ein Mädchen sein. Lara (Victor Polster; umwerfend) will zweierlei, und sie will es absolut. Eine Ballerina werden und ein Mädchen werden. Dass sie längst eines ist, wird ihr im Verlauf von Girl mehr als einmal gesagt werden, aber was die anderen glauben, glaubt Lara noch lange nicht.
Nicht, solange sie nicht den Körper eines Mädchens hat. Und nicht, solange der Körper Widerstand leistet: gegen das Training, gegen die Dresscodes, gegen das Begehren; gegen die Norm, die Brüste vorsieht, aber keinen Schwanz; gegen Laras Blick, der ihren Körper nach Zeichen der Veränderung absucht und keine findet, immer noch nicht, auch wenn sie die Hormondosen heimlich erhöht.
Ein Mädchen, dessen Körper sich in Transition befindet, in das Milieu des Balletts zu versetzen, radikalisiert das Problem der Normativität, der Peer Group Pressure und der Weiblichkeit, die immer auch Maskerade ist. Es etabliert außerdem die Frage, simpel und brutal zugleich, ob es Umstände gibt, in denen der Körper darstellt, was er eigentlich nicht darstellen soll: eine Festlegung, und zwar eine, die unhintergehbar ist, ganz egal, was man ihm abverlangt, und ebenso egal, was man sich von ihm wünscht. In Girl ist die Auseinandersetzung mit dieser Frage in jede Bewegung des Körpers eingetragen, die von der Kamera sehr aufmerksam begleitet wird: von der Wohnung in das Getrappel und Gewimmel im Ballettsaal, hinter die abschließbare Tür der Toilette, zurück in den Saal, die Wohnung etc.
Dass Lukas Dhont das Milieu des Balletts sehr gut kennt (er hat bereits zwei Kurzfilme darüber gedreht), ist dem Film anzusehen, vor allem das Wissen um die Praktiken der Disziplinierung. Wenn Lara vor jeder Probe ihren Penis abklebt, passt das ganz gut in ein Trainingsprogramm, in dem Zehen abgeklebt werden und viel gehungert wird. Unklarer als der Blick auf die Zurichtung des Körpers ist indessen der auf das Gendering des Ballettfilms: die Tradition der schönen weiblichen Leiche; und unklar auch das Verhältnis zu den Debatten um eine Besetzungspolitik, die Cis castet, wo Trans erzählt werden soll. Dass entsprechende Rückfragen meist mit dem Verweis auf Anforderung, Talent, Anspruch und Erfüllung beantwortet werden, ist Teil des Dilemmas, das in Girl thematisiert wir–––d. Nicht gelöst, nicht ad acta gelegt; aber als Dilemma erkannt.
Info
Girl Lukas Dhont Belgien 2018, 109 Minuten
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