Jacques Audiard ist der Regisseur der Krieger. Es gibt andere Figuren in seinen Filmen, andere Typen, aber der Krieger ist derjenige, um den alles Weitere aufgebaut wird: Akteure, Konflikte, so etwas wie eine Geschichte und immer wieder eine andere Welt, in der die Krieger ausgesetzt werden, um sich zu behaupten oder unterzugehen. Drunter geht’s nicht, nicht bei Audiard, der seine Protagonisten in Handlungen schickt wie in eine Arena, die das Gefängnis sein kann, oder die Backstage der Côte d’Azur oder die zwei Wohnblocks in der Pariser Banlieue, die in Dämonen und Wunder, dem neuesten Film, den Schauplatz begrenzen. Die längste Zeit sieht man nicht weiter als bis zur nächsten Wand: Mauern, umbaute Räume. Dieser Regisseur ist auch ein Spezialist der verengten Sichtfelder.
Reflexiver Charme
Als Erzähler ist er nicht am Untergang seiner Krieger interessiert. Was er stattdessen in Szene setzt, ist ihre Verwandlung in Kämpfer; eine Transformation, die weniger das Handeln als die Haltung dazu betrifft. Wenn es in den Filmen von Audiard darum geht, einen Ort jenseits der Gewalt zu etablieren, dann nicht unbedingt, um der Gewalt zu entkommen, sondern um den Kriegern einen Grund zu geben, der außerhalb von ihnen liegt und der in Dämonen und Wunder, zum dritten Mal seit Ein Prophet (2009) und Der Geschmack von Rost und Knochen (2012), in der Familie gefunden wird. (Nicht in der Liebe, nicht im Paar. Die Paare, die in den älteren Filmen gebildet werden, formieren sich nie ohne ein Drittes, das in Lippenbekenntnisse von 2001 der Coup ist und in Der wilde Schlag meines Herzens von 2005 die Musik.)
Die Familien sind Patchwork, durch Geschichten statt durch Verwandtschaften verbunden; das gehört zum Programm. In Ein Prophet fehlt (irgendwann) ein Vater, in Der Geschmack von Rost und Knochen (von Anfang an) eine Mutter, Dämonen und Wunder hingegen setzt damit ein, dass eigentlich alle vereinzelt sind: Männer, Frauen, Kinder, von denen drei zu einer Familie sortiert werden, weil man sie so leichter über die Grenze und durch das Asylverfahren bringt. Als Auftakt eines Films ist das nicht ohne reflexiven Charme: Tut so, als ob ihr zusammengehört, jedenfalls solange jemand hinsieht. Allerdings wäre Audiard nicht Audiard, wenn die Zweck- nicht zugleich als Schicksalsgemeinschaft konzipiert wäre. Durchkommen heißt nicht ankommen; ausreisen bedeutet nicht, den Krieg hinter sich zu lassen; die als Familie auftreten, müssen zu einer werden, was nur gelingen kann, sofern sie sich in ihrer Erlösungsbedürftigkeit erkennen.
Also findet die Erlösung in der Banlieue statt. Nicht im Freiheitskampf, aus dem der tamilische Partisan Dheepan (Jesuthasan Antonythasan) sich gleich zu Beginn verabschiedet, und nicht in der Flucht, die in einer langen Schwarzblende versenkt ist, sondern am Stadtrand, wo die Betonklötze auf die grüne Wiese gestellt sind. Der Krieger wohnt dort im Erdgeschoss, in einer Hausmeisterwohnung mit Hausmeisterpflichten, die Frau (Kalieaswari Srinivasan) ist ihm erst einmal keine Hilfe.
Das Ende anderswo
„Als hätte ich ein zweites Kind“, sagt Dheepan irgendwann, und: „Ich schaffe es nicht alleine“, was das allgemeine Konzept der Geschlechterrollen bei Audiard ganz gut auf den Punkt bringt. So wie die Krieger eine Heimat brauchen, müssen die Frauen für die Krieger zur Heimat werden. Das lässt sich einüben, mit der interessanten Ausnahme in Lippenbekenntnisse, in dem eine Sachbearbeiterin mit ungeahnten Ressourcen die Rolle des Kämpfers einfach übernimmt.
Der Krieg, der den Hausmeister-Krieger dann nach einer Weile heimsucht, ist nicht mehr der alte, sondern einer, der von den Gangstern ausgeht, die aus dem Wohnblock gegenüber operieren und in Dheepans Block eine Zweigstelle haben. Wenn diese Entwicklung auf der einen Seite ein etwas einförmiges Verhältnis zur Location dokumentiert (Drogenhandel, Bandenkrieg; andere Ideen zur Banlieue sind auch im französischen Kino selten), muss auf der anderen zugestanden werden, dass Dämonen und Wunder die Welt, die hier die Kulisse für die Geschichte des Kriegers abgibt, mit einigem Interesse auslotet. Tatsächlich gehört auch das zum Prinzip Audiard: keine Variation in der zentralen Typologie, aber von Film zu Film Variation in den Umfeldern, die, für einige Szenen oder für eine gewisse Dauer, mit geradezu ethnografischer Aufmerksamkeit erfasst werden. Das Großraumbüro in Lippenbekenntnisse, das Gefängnis in Ein Prophet, die Welt der Nachtcafés und Clubs in Der wilde Schlag, die zwei Häuserriegel mit den Aufgängen A bis H in Dämonen und Wunder entwickeln immer auch eine Existenz als Orte, unabhängig von der Funktion, die sie für die Erzählung erfüllen.
Seit den ersten Filmen ist die Welt Audiards eine nächtliche, unruhig beleuchtete, die sich bei Tag in eine der fahlen Himmel und blassen Farben verwandelt. Licht, wo es auftritt, wird schnell zu viel, weshalb dies auch ein Œuvre der Linsenreflexionen und Überbelichtungen ist. Besser sieht man durch einen Schleier, noch besser im Nebel, durch den Dheepan sich gegen Ende arbeitet, und wie immer kann der Film nicht dort zum Ende kommen, wo sich die Geschichte abspielt. Im Epilog: Das ist, seit dem Erfolg von Der wilde Schlag, der Modus, in dem Audiard seine Protagonisten verabschiedet. Anderswo, zu einer anderen Zeit, die nicht mehr der Handlung angehört und vielleicht nicht einmal als deren Zukunft vorgestellt werden kann. Eher als jener Ort, an den die Krieger gehen, wenn sie aus der Arena entlassen sind.
Info
Dämonen und Wunder Jacques Audiard Frankreich 2015, 115 Minuten
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