Stabil steht keiner

Kino Nicolas Wackerbarth erzählt in „Casting“ von den Besetzungsproben für ein Fassbinder-Remake, also von Sehnsucht und Begehren
Ausgabe 44/2017

Es gibt einige bekannte Theaterfilme, die so eingerichtet sind, dass vier Männer um eine Schauspielerin rotieren. Ernst Lubitschs Sein oder Nichtsein von 1942 gehört dazu, ebenso Kinder des Olymp von Marcel Carné aus dem Jahr 1945 oder Die goldene Karosse von Jean Renoir von 1952. Der Film Casting von Nicolas Wackerbarth hingegen, der nicht vom Theater erzählt, sondern von einer Fernsehproduktion, lässt einen Mann um vier oder fünf Schauspielerinnen rotieren, und er integriert die Rotation in ein Spiel um Macht- und Rollenverteilung, um Anziehung, Abstoßung, um Begehren und um Unterwerfung.

Der Auftritt der Schauspielerinnen ist seriell und typologisiert. Die Zickige, die Nervöse, die Autoritative, die Neurotische, die ganz Harte, die indes alle im jeweils nächsten Moment auch anders beschrieben werden könnten, da Verhaltensprofile hier nicht so sehr psychologisch wie vielmehr strategisch zu betrachten sind und das Profil stets den Erfordernissen der Situation angepasst wird. Dem, was das Casting von den Schauspielerinnen verlangt. Und dem, was sie als die Erwartung ihres Gegenübers wahrnehmen.

Es geht um die Besetzung für ein Remake von Rainer Werner Fassbinders Film Die bitteren Tränen der Petra von Kant. „Du bist doch auch eine Frau“, sagt Schauspielerin Luise (Corinna Kirchhoff) irgendwann zu Regisseurin Vera (Judith Engel), aber darauf sollte sie sich besser nicht berufen. Zum einen, weil weibliche Solidarität für die Figuren dieses Films wirklich keine Option darstellt. Zum anderen, weil die Machtverteilung zwischen der Regie, die castet, und den Schauspielerinnen, die gecastet werden, hier programmatisch nicht auf die etablierten Gender-Rollen abgebildet ist (Harvey Weinstein, die Besetzungscouch, die Herren mit dem Skript, die Damen auf dem Weg ins Hotelzimmer), sondern sich komplizierter gestaltet, perfider ohnehin, ohne jede Garantie für die Beständigkeit der Maskeraden, Strategien, Allianzen.

Die Regeln der Handlungsentwicklung sind dabei ziemlich einfach. Nummer eins: Keine Figur steht stabil auf der Position, auf der sie sich gerade befindet. Nicht die Schauspielerinnen, die zum Casting antanzen, aber auch nicht die Figuren in der sehr vertikalen Hierarchie von Anspielpartner, Regieassistentin, Gewerken, Regisseurin, Produktionsleiter, Redakteurin.

Nummer zwei: Jede Figur wird die Situation, in die sie in einem gegebenen Moment gestellt wird, als Chance begreifen, die instabile Position zu festigen, gerne auch mit Gewalt, die in Casting fast immer verbal ist und darin recht zivilisiert, da zu den Verhaltensregeln auch die lächelnde Bösartigkeit und das gekonnte Sprachmanöver zählen.

Wo es für ein, zwei Zeilen doch mal explizit wird, kommt der Text meist aus dem Stück Petra von Kant, das eine Art Blaupause für die Machinationen liefert, die sich im Off des Castings und in das Casting hinein entfalten. Fassbinder hat es 1971 verfasst und 1972 mit Margit Carstensen verfilmt, und dass Petra von Kant bis heute ziemlich viele Fans hat, ist damit zu erklären, dass die Mechanik von Werbung und Zurückweisung, von Auftritt und Demontage, von finanzieller und sexueller Attraktion dort bereits vollständig ausbuchstabiert worden ist, inklusive des irren Vergnügens an der Dynamik des Powerplay und des Sadismus, der das Vergnügen grundiert.

„Ich will einen Platz auf dieser Welt“, sagt Gerwin (Andreas Lust), der Anspielpartner im Besetzungsprobenprozess ist, der für einen Moment selbst die Rolle des Karl spielen darf. Und meint damit zugleich, dass er diese Rolle für sich haben will, einen Platz in der Produktion des fiktiven Fassbinder-Remakes. Und mit dem Platz etwas von der Anerkennung, nach der in Casting sämtliche Figuren streben, auch wenn sie fast allen versagt bleibt.

Wer sich in die geschlossene Welt des Studios begibt (Labyrinth, Vorhölle, keine Außenperspektive), betritt sie, um sich demontieren zu lassen. Das gilt für die Schauspielerinnen eins bis vier (Ursina Lardi, Marie-Lou Sellem, Corinna Kirchhoff, Andrea Sawatzki), die in einem Schnitt ausgewechselt werden können, wenn man mit ihnen fertig ist. Und es gilt erst recht für den nichtprofessionellen Komparsen, der viel Mühe aufwendet, um die Regeln des Spiels zu erlernen, sie aber bis zum Schluss nicht ganz kapiert, wobei ihm kaum etwas erspart bleibt und die Demütigungen, die er durchläuft, ebenso sorgfältig orchestriert sind wie einst die der Petra von Kant.

Du bist hier die Wurst

Von Walter Benjamin stammt die schöne Beobachtung, dass der Film, der über die Macht verfügt, Objekte in Akteure zu verwandeln, auch in der Lage sei, Akteure zu Objekten zu machen. Mit Blick auf Casting wäre diese Idee dergestalt zu pointieren, dass der Objektstatus nicht immer der schlechteste ist und dass diejenigen, die als Versatzstücke ins Inventar des Studios eingeordnet bleiben, auch den Schutz des Inventars genießen könnten, mit dem allemal sorgfältiger umgegangen wird als mit den personalen Ressourcen. Die „Anspielwurst“ (O-Ton der Zickigen) jedenfalls, die nicht mehr Wurst sein will, findet sich in einem jener bösartigen Märchen wieder, die dazu konstruiert sind, Ambitionen zu bestrafen, indem sie die Erfüllung von Wünschen in Aussicht stellen und sie in bestimmtem Sinne sogar wahr machen.

„Du bist Karl“, hatte Regisseurin Vera zwischenzeitlich zu Gerwin gesagt. Aber der Part, den das personale Versatzstück eingenommen haben wird, ist am Ende noch etwas größer, tragischer auch. Eine Hauptrolle, variabel konzipiert wie die meisten Rollen in dem Kammerspiel, das Casting ist – und es ist nicht zu bestreiten, dass der Komparse sie am allerbesten gespielt hat.

Info

Casting Nicolas Wackerbarth Deutschland 2017, 91 Minuten

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