Suche nach dem Halt

Kino Der Verlust fährt wie eine Straßenbahn durchs eigene Leben: Marco Bellocchios Film „Träum was Schönes“
Ausgabe 33/2017

Marco Bellocchios Träum was Schönes ist ein interessanter Film, aber deutlich wird das erst in den letzten Minuten. Bis dahin, das heißt: bis ein Einverständnis bestätigt, ein Pakt geschlossen, eine Geste der Einschließung ausgeführt worden ist, könnte es auch ein weniger interessanter sein. Und wäre dann nicht viel mehr als die etwas misogyne Geschichte vom wunschlosen Unglück und von einem Verlust, der so unfassbar ist, dass zunächst erzählt wird, er habe gar nicht stattgefunden.

Dabei ist der Verlust eklatant, eine Sache der allerersten Minuten, traumatisch, nächtlich und auf jene spezifische Weise opak, die keine Fragen offenlässt. Massimo, der Protagonist des Films (Nicolò Cabras), verliert als Neunjähriger seine Mutter (Barbara Ronchi). Zu schreiben, dass danach nichts mehr sein kann, wie es war, liegt nahe. Aber es passt nicht recht zu einem Film, in dem die Grenzen zwischen den Lebenden und den Toten unscharf verlaufen. Es beginnt mit Musik und einem Tanz, um danach die Stille regieren zu lassen und mit der Stille die Beklemmung, die durch die Räume der bürgerlichen Wohnung kriecht und sich in ihren Winkeln festsetzt, während im Fernseher die Phantome umgehen und längst Blickkontakt mit ihren Gegenübern auf dem Sofa aufgenommen haben.

Was die Figuren unter diesen Umständen noch miteinander auszumachen haben, ist in einem Dialog von zwei, drei Zeilen abzuhandeln. „Fahren wir noch eine Runde?“, fragt Massimo. „Ja, wir fahren noch eine“, sagt die Mutter, woraufhin die Straßenbahn sich wieder in Bewegung setzt und die Welt auf der anderen Seite des Fensters liegen bleiben kann. Daran wird sich im Verlauf des Films nicht viel ändern, auch wenn immer mal ein Fenster geöffnet oder offen gelassen wird und gegen Ende sogar eine kleine Flucht durch eine Fenstertür erfolgt. Träum was Schönes ist ein Szenario der Interieurs, in dem die Existenz einer Außenwelt bekannt, die Außenwelt selbst jedoch mit sehr geringer Anziehungskraft ausgestattet ist.

Mantel der Wiederkehr

Irgendwann, aber damit lässt sich dieser Film viel Zeit, tritt eine Figur mit dem Gesicht der Schauspielerin Bérénice Bejo auf und versucht, zwischen dem Innen, das unentrinnbar ist, und dem Außen, das dennoch existiert, Verbindungen zu eröffnen. Erst als Stimme am Telefon, dann bei einer Anamnese im Sprechzimmer, dann wieder am Telefon und dazwischen auf einer Brücke, die sie in Richtung der Außenwelt verlässt, auf hohen Absätzen und in einem jener hellen Mäntel, wie sie zuvor schon ein paarmal zu sehen waren. Mit dem kleinen roten Mantel, der in Nicolas Roegs Wenn die Gondeln Trauer tragen (1973) durch Venedig spaziert, teilt der helle Mantel vor den Kulissen von Marco Bellocchios Turin die Eigenschaft, die Mechanik der Wiederkehr präsent zu halten.

Die Katastrophe hat bereits stattgefunden; was seinen Gang geht, geht ihn unerlöst und wie in einem langen dunklen Traum; aber wenn das, was hier stetig wiederkehrt, sich dabei ein wenig unähnlich wird, heißt das noch lange nicht, dass der Ausgang der Geschichte zu ändern oder überhaupt zu finden wäre, einfach weil es sich um eine jener Geschichten handelt, in denen es keinen Ausgang gibt.

Was es stattdessen gibt, sind Wiederholungen. Und da die Story vom Mann (Valerio Mastandrea), der nicht erlöst oder gerettet werden will (Romanvorlage: Gramellini), von Bellocchio verfilmt worden ist, wird keine Wiederholung zu einem Abschluss führen, sondern jede einzelne nur einen weiteren Schauplatz eröffnen, an dem die Gespenster umgehen und ein Szenario reproduziert wird, in Fragmenten oder in Details, bis zu dem Moment, in dem man genug gesehen hat und der eine Schauplatz mit dem jeweils nächsten vertauscht wird.

Zwei Mal das gleiche Sofa vor dem Fernseher, die gleichen Silhouetten und irgendwann die gleiche Geste der Annäherung, die beim zweiten Mal eine Abfuhr erhält. Zwei Mal eine ödipale Konstellation, in der zu viel Liebe und entschieden zu viel Qual sind. Zwei Mal der exzessive Tanz; zwei Mal der Tod hinter einer verschlossenen Tür; zwei Mal der Blick, der sich auf einen Bildschirm heftet, um blind für anderes zu bleiben. Zwei Mal das Album, die Zeitung; zwei Panikattacken, zwei Sprünge aus großer Höhe, dazu ein dritter, der auf den Turm eines Schwimmbads verlegt ist; zwei Mal und öfter ein nächtlicher Anruf, und zwischen all diesen Echos und Reprisen der Reigen der hellen Mäntel und der hohen Absätze, der Wangenknochen und der dunklen Haare, die der einzig Geliebten und jeder Beliebigen gehören.

Die Welt der Ähnlichkeiten, die der Regisseur Bellocchio um die Geschichte vom Verlust gebaut hat, ist eine, die von verschiedenen Figuren durchquert wird, am Ende aber nur Platz für zwei hat, die darin alleine bleiben wollen. Darin – ebenso wie in der Beziehung zum Spuk, zum Schweigen, zur Schließung – ähnelt sein Film Erzählungen von Edgar Allan Poe, die den Himmel über ihre Welt legen, als wäre der ein Sargdeckel, und in denen alles, was sich unter dem Himmel befindet, dem Pakt zugeordnet bleibt, den zwei geschlossen haben, bevor eine in den Sarg gelegt wurde und einer zurückblieb, um den Pakt weiter zu verwalten. Sie machen noch eine Runde, das hatten sie gleich zu Beginn so vereinbart. Was danach kommt, ist eine lange Fahrt in Kreisen, über sechs, sieben, acht Stationen bis zum Ausgangspunkt. „Unsere Haltestelle“, hat der Junge damals gesagt.

Info

Träum was Schönes Marco Bellocchio Italien/Frankreich 2016, 131 Minuten

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