Trübe schwappen die Wellen an den Bug des Tankschiffs Melani, das auf der Höhe von Duisburg durch den Rhein fährt. Noch ist es früh, erst gegen zehn Uhr. Doch der 18. Mai 1966 verspricht, ein warmer Frühlingstag zu werden, und bereits jetzt stinkt das Wasser nach Moder, Ammoniak und Schiffsdiesel. Die Besatzung der Melani blickt auf den Strom. Plötzlich steigt zwischen Schaumballen der Buckel eines weißen Tieres empor – ein vier Meter langer Belugawal. Als erste Amtshandlung unterzieht die herbeigefunkte Wasserschutzpolizei die komplette Besatzung der Melani einem Alkoholtest. Schließlich wird das nordrhein-westfälische Innenministerium eingeschaltet, es gibt Nachforschungen über die Herkunft des Tieres. Bald steht fest: Dieser Wal ist ein Schiffbrüchiger.
Kurz zuvor war der an der Ostküste Kanadas gefangen worden und auf einem Frachter unterwegs in einen britischen Zoo gewesen. Doch schwere See im Ärmelkanal ließ das Schiff kippen und den Wal entkommen. Warum er ausgerechnet den Rhein hinauf schwamm, blieb ein Rätsel, denn der Fluss drohte zur tödlichen Falle zu werden. Moby Dick, wie ihn die Presse rasch taufte, nahm Kurs rheinaufwärts, es schien unwahrscheinlich, dass der Wal einfach wieder dorthin schwamm, wo er hergekommen war. So wurde das Wildtier zu einem Problem, ähnlich wie auf den Tag genau 40 Jahre später Braunbär Bruno im bayerisch-österreichischen Grenzgebiet.
Solidariät mit Moby Dick
Der Mann der Stunde hieß Wolfgang Gewalt, seinerzeit Chef des Duisburger Zoos. Sein Lieblingsprojekt war der Ausbau eines Delfinariums. Der Wal schien ihm ein Geschenk des Himmels zu sein. Als Mitglied einer Generation von Zoodirektoren, die ihre Tiere auf Safaris noch selbst fingen, fackelte Gewalt nicht lange und blies zur Jagd auf Moby Dick. Seine kurios bis brachial wirkenden Methoden sorgten für ein Medienspektakel. Es war das erste, bei dem Umwelt- und Tierschützer die Hauptrolle spielten. Wolfgang Gewalt ließ Tennisnetze aneinander knoten und veranstaltete Treibjagden im Rhein, aber Moby Dick entkam.
Man trieb ihn in den Duisburger Hafen, doch der Wal entfloh auch aus dieser Falle. Schließlich sollte ihn ein Scharfschütze mit indianischem Pfeilgift betäuben. Getroffen entkam Moby Dick in die Tiefen des Flusses. Spätestens jetzt hatte das clevere Tier die Medien auf seiner Seite. Täglich berichtete die Bild-Zeitung vom Rheinufer und titelte: Verhaftet Dr. Gewalt! Über Wochen pilgerten Schaulustige zum Fluss, um einen Blick auf Moby Dick zu erhaschen und ihre Solidarität mit dem Tier zu bekunden. Einige Tierschützer charterten sogar einen Hubschrauber, um Gewalts Walfang-Flotte mit Orangen zu bewerfen.
Nüchterner war die Reaktion der Fachleute, zum Beispiel die des bekannten Tierfilmers und Verhaltensforschers Bernhard Grzimek. Im Spiegel kommentierte er die Vorgänge in der niederrheinischen Provinz kritisch: „Um diesen einen Beluga sorgen sich Hunderttausende. Dass die Norweger dieselben Weißwale vor Spitzbergen so gut wie ausgerottet haben, und zwar in recht blutiger, grausamer Weise, kümmert niemanden, denn Spitzbergen ist ja weit weg.“ Grzimek richtete den Blick auf die eigentliche Tragödie: Moby Dick hatte Glück, ein Wal zu sein. Als Fisch, der das giftige Dreckwasser des Rheins durch die Kiemen hätte atmen müssen, wäre er vermutlich eingegangen. Die ARD berichtete von auffallenden Flecken auf der weißen Haut des Wals – kein Zweifel, Moby Dick litt unter schwerem Ausschlag.
Rauchende Schlote, verschmutzte Flüsse
Fachleuten war seit Jahren bewusst, in welchem Zustand sich „Vater Rhein“ befand, und welche Gefahren drohten. Die Anliegerstaaten hatten bereits 1950 die Internationale Kommission zum Schutz des Rheins gegründet. Doch zunächst blieb es bei Lippenbekenntnissen. Anfang der sechziger Jahre berichteten niederländische Bauern, dass sich sogar ihr Vieh weigere, aus dem Rhein zu trinken. Zu diesem Zeitpunkt war die Güteklasse des Wassers auf den Wert III-IV gesunken. Die sauerstoffarmen und giftigen Fluten waren von Zuckmücken, Würmern und Pilzen besiedelt, die einen durchdringenden Abwasser- und Schwefelgestank produzierten. Fische lebten im Rhein kaum noch. Und wenn, dann schmeckte ihr Fleisch intensiv nach Chemikalien. Gerade die Bewohner Duisburgs und des restlichen Ruhrgebiets waren über die schweren Umweltschäden beunruhigt, mit denen sie täglich konfrontiert wurden.
Doch trat die Sorge ums Wasser hinter der Angst vor Smog und Luftverschmutzung zurück. Auch hatten sich die Anwohner über die Jahrzehnte an ein gewisses Maß der Belastung gewöhnt, so dass die Politik lediglich gefordert war, örtlich begrenzte Katastrophen einzudämmen. Ähnlich sah es in anderen Teilen der Bundesrepublik aus: Es gab durchaus ein traditionsreiches lokales Engagement für Natur- und Heimatschutz – überregionale oder gar internationale Umweltprobleme, wie sie der Zustand des Rheins aufbürdete, überschritten jedoch den Wahrnehmungshorizont der meisten Deutschen. Zudem hatten Naturschützer einen schweren Stand gegen die Argumente der Industrie: Wer Wohlstand für alle wolle, müsse rauchende Schlote und giftiges Abwasser akzeptieren.
Einen Schritt nach vorn hatte 1961 Willy Brandt zum Auftakt des Bundestagswahlkampfes gewagt und einen „Blauen Himmel über der Ruhr“ gefordert. Es blieb bei Rhetorik, immerhin war das Thema Luftverschmutzung bundesweit in den Köpfen angekommen. Es sollte noch dauern, bis allgemein begriffen wurde, dass auch verseuchte Flüsse eine Gefahr für die Gesundheit darstellen konnten. Es waren die Leiden von Moby Dick, die im Frühjahr 1966 die Blicke auf den Rhein lenkten.
Nach einer weiteren Narkose-Attacke blieb der Wal zunächst verschwunden. Die Sorge wuchs, er könnte betäubt ertrunken sein. Dann aber meldeten die Niederländer eine Walsichtung im Ijsselmeer. Heute erscheint es wahrscheinlicher, dass sie mit dieser Nachricht ihre aufgeregten Nachbarn bewusst düpierten. Springer-Reporter Werner Schmidt reiste extra an und ging mit dem „schwimmenden Spezialkorrespondenten“ der örtlichen Lokalzeitung auf Walsuche im Ijsselmeer. Man blieb ohne Ergebnis.
Ein Wal als Geburtshelfer der Umweltpolitik
Stattdessen tauchte Moby Dick am 11. Juni in Köln wieder auf und schwamm weiter rheinaufwärts. Es folgte eine Episode, die einige Zeitgeist-Forscher bis heute als Geburtsstunde der deutschen Umweltpolitik ansehen. Moby Dick erreichte Bonn, schwamm am Auswärtigen Amt, am Bundespräsidial- sowie Kanzleramt vorbei und zog die neugierigen Beamten an die Fenster. Dann erreichte er das Ufer vor dem Bundeshaus, wo gerade eine internationale Pressekonferenz stattfand – und blieb so lange in Sichtweite, bis Politiker und Journalisten ans Ufer rannten, um das Tier mit eigenen Augen zu sehen. Als ob er damit seinen Auftrag erfüllt hatte, kehrte Moby Dick um und schwamm zügig den Rhein abwärts, bis er schließlich zwei Tage später zum letzten Mal bei Hoek van Holland gesichtet wurde und im offenen Meer verschwand. Zurück blieben die tief beeindruckten Deutschen.
Das unerwartete Auftauchen des hellen Tieres lässt an den apokalyptischen Boten denken, der das Nahen von Seuchen und Tod ankündigte. Die Begegnung mit dem Wal bewirkte noch kein gesellschaftlich tiefgreifendes Umdenken, auch kein sofortiges Umschwenken der Politik, aber es machte die Deutschen bereit. Zur Tat schritten sie erst, als drei Jahre nach Mobys Reise die erwartbare Katastrophe eintrat. Bis heute ist ungeklärt, wer im Juni 1969 große Mengen des Insektengiftes Thiodan in den Rhein schleuste, aber der Anblick von Millionen Fischkadavern zwischen Koblenz und Rotterdam ließ keine Zweifel mehr zu. Er war das Startsignal für Umweltschutzaktionen wie „Rettet den Rhein“. Drei Jahrzehnte sollte es dauern, bis der Fluss tatsächlich gerettet war.
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