Die Einsamkeit der Solidarität

Corona Über Mechanik und Monotonie des Pandemiealltags

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Symbolbild
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Foto: Imago/Seeliger

Ich will nie wieder spazieren gehen. Ich habe es satt, an Fassaden hochzublicken, um zu bemerken, dass ich mein Viertel kaum kannte. Ich will nie wieder von durchfeuchteten Masken hören, ich will kein Coronavirus-Update mit Christian Drosten und Korinna Henning. Ich will Menschen nicht mehr dazu aufforden, doch bitte in der U-Bahn Mund-Nasen-Schutz zu tragen.

Jeder Tag gleicht dem davor wie kein anderer. Ich schlafe bis 7:30 Uhr, nachts wache ich davon auf, dass ich mit den Zähnen knirsche. Ich stehe auf, ich koche Kaffee, ich schäume Milch. Ich verbringe meine Zeit vor Zoom und der Tageslichtlampe, ich schreibe „Meldung“ in den Chat, wenn ich mich traue.

Ich kaufe stets einen Bund Möhren, zwei Auberginen, Tomaten und Barilla Spaghettini No. 3. Dann koche ich, tunke Staudensellerie in Hummus. Ich verschicke Videonachrichten, um mich sprechen zu hören, weil ich tagelang mit niemandem rede. Bei Lidl kaufe ich Blumen und rufe meine sterbende Oma an. Ich sage „Ich hab Blumen gekauft, ich denk an dich.“ Dann stirbt sie.

Ich tippe verschiedene Kombinationen in die Youtube-Suchleiste: yoga bei menstruation, yoga bei stress, wut, kummer. Ich verbeuge mich am Ende jeder Yogaeinheit vor mir selbst.

Dietmar Dath liegt seit Monaten auf meinem Nachttisch, ich komme kaum zum Lesen, dafür schaue ich stundenlang Dokus. Bei Verabredungen über Zoom variiere ich zwischen den drei immer gleichen virtuellen Hintergründen. Ich studiere Theaterwissenschaft, vor einem Jahr war ich das letzte Mal im Gorki. In präpandemischen Übermut bin ich in der Pause gegangen.

Ich gehe durch den Schillerpark, ich höre Frederic Chopin und Franz Schubert. Ich beobachte den Mann, der gegenüber wohnt, bei den US-Wahlen haben wir gleichzeitig CNN gestreamt, im Dezember hat er sich eine Tageslichtlampe aufgestellt, wir verfolgen beide, wie das Capitol gestürmt wird. Er im Fernsehen, ich auf Twitter. Im Januar schauen wir beide den CDU-Parteitag. Er schaut nie rüber, sonst würde ich mal winken.

Es wird kalt, ich denke in routinierter Bestürztheit an obdachlose Menschen und like Beiträge, die die Nummer des Kältebus teilen. Ich versuche, meine Einsamkeit als Akt der Solidarität zu begreifen, der Weltschmerz holt mich dennoch. Die Krise trifft erst dann alle gleich, wenn arme Menschen nicht mehr auf FFP2-Masken sparen müssen.

Wenn alles unerträglich wird, beiße ich die Zähne zusammen, denke an die Risikogruppe oder fahre zu Dussmann.

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