1959

Gedenkstätten Die Geschichte des ehemaligen KZ Ravensbrück steht heute beispielhaft für die Herausforderungen des Gedenkens und der Auseinandersetzung mit dem NS-Grauen

Vera Bobkova war schier überwältigt, als sie am 12. September 1959 in Ravensbrück das Podium betrat. „Ich schaute und dachte – und wirklich, wie schön sind unsere Frauen. Im Lager gingen sie in schmutzigen, gestreiften Kleidern, geschoren, mit Geschwüren am Körper, dürr, Haut und Knochen. Jetzt sind sie alle voll geworden, haben sich herausgeputzt. Alle haben moderne Frisuren“, sagte die Vertreterin der Delegation ehemaliger sowjetischer Häftlingsfrauen in ihrer Grußbotschaft vor den mehr als 70.000 Gästen und früheren Kameradinnen. Wenig später stiegen 5.000 weiße Friedenstauben in den Himmel und die Nationalhymne der DDR erklang – die Nationale Mahn- und Gedenkstätte Ravensbrück war eröffnet.

Damit kam ein Entwicklungsprozess vorläufig zu einem Abschluss, der bald nach der Befreiung des Konzentrationslagers durch die Rote Armee begonnen hatte. Am 30. April 1945 hatten die Soldaten der zweiten belorussischen Front das größte Frauenlager des Nazi-Regimes erreicht. Sie trafen auf 3.000 zurückgelassene, kranke und schwache Häftlinge; mehr als 20.000 Inhaftierte hatte die SS zuvor noch auf einen Todesmarsch getrieben. Die Rote Armee besetzte das Lager und richteteeine eigene Kaserne ein. Die Einrichtungen des ehemaligen Lagers wurden demontiert. Da sich die Bevölkerungszahl der Region schnell verdoppelte, brauchte man die ehemaligen Häftlingsbaracken als Unterkünfte für Neusiedler und Flüchtlinge. Drei Jahre nach Kriegsende hatte das Lager sein Gesicht völlig verändert. Dank engagierter Bemühungen ehemaliger Häftlinge gelang es 1948, eine provisorische „Gedächtnisstätte“ einzurichten. Sie bestand aus einer Stele mit Feuerschale und bildete zusammen mit dem Erschießungsgang und dem Krematorium ein Ensemble. Ein dauerhaftes Provisorium. Lange geschah nichts weiter, trotz der Beschwerden der ehemaligen Häftlinge, dass der Ort in einem unwürdigen Zustand sei. 1953 gelangte die Zuständigkeit für die Gestaltung der Gedenkstätten Buchenwald, Sachsenhausen, Ravensbrück und Hohnstein (eine Burg in der Sächsischen Schweiz, die eines der ersten KZ war) in die Verantwortung der SED. Das sogenannte Buchenwald-Kollektiv erarbeitete die Gestaltung für die Mahn- und Gedenkstätte Ravensbrück, die seit 50 Jahren die Ansicht des Ortes prägt: Mit den langen Rosenbeeten entlang der ehemaligen Lagermauer, vor allem aber mit der weit in den See hinein gebauten Terrasse, darauf die Skulptur „Die Tragende“ von Will Lammert. Ein Friedhofsmonument, denn im See lagert die Asche tausender Frauen und Kinder.

Der Feier am 12. September 1959 war ein Staatsakt – mit 20 Sonderzügen und 500 Bussen waren Gäste angereist. Die Anfahrtswege nach Fürstenberg schmückten sozialistische Parolen und Bildnisse antifaschistischer Heldinnen. Die kärglichen Warenbestände in den örtlichen Läden wurden aufgestockt, man wollte den Besuchern aus dem Ausland ein positives Bild der DDR vermitteln. Es folgten lange Jahre, in denen die Gedenkstätte in den Ritualen der antifaschistischen Selbstinszenierung der DDR ihren festen Platz hatte. Man versuchte damals, das Gedenken zu homogenisieren, schreibt die heutige Leiterin der Gedenkstätte, Insa Eschebach, in einem Aufsatz zum 50. Jahrestag der Befreiung im Jahr 1995. Wie überall in der DDR und den kommunistischen Ländern stellte man den Widerstandskampf antifaschistischer Heldinnen in den Mittelpunkt des Gedenkens. Damit blendete man unzählige andere Opfergeschichten aus. Erst Mitte der achtziger Jahre öffnete sich der Blick für die unterschiedlichen Opfergruppen, man widmete sich den Christinnen, den Jüdinnen, Roma- und Sinti-Frauen.

Und heute? An einem sonnigen Ferientag ist der Parkplatz vor der Gedenkstätte fast gänzlich belegt. Von Pkw mit fast ausnahmslos deutschen Kennzeichen. Auch viele Radfahrer kommen vorbei, halten ein zwei Stunden inne, sehen sich ein wenig um und strampeln dann weiter zum nächsten Badesee.

Wirklich verstehen, was hier geschehen ist, wird ein Nachgeborener wohl kaum. Unvorstellbar, dass in dieser im milden Sommerlicht liegenden Landschaft 1938 bis 1945 mehr als 130.000 Menschen inhaftiert waren, von denen 92.000 (Frauen die Großzahl, aber auch viele Kinder und Männer) qualvoll zu Tode kamen. Ermordet oder elendig eingegangen durch Hunger, Kälte oder Krankheiten, die von den katastrophalen hygienischen Zuständen im Lager ausgelöst wurden.

Um sich das Grauen vergegenwärtigen zu können hat sich viel getan, seit die sowjetische Armee ihre Soldaten 1993 in die Heimat zurückbeorderte und dabei die enormen Flächen des ehemaligen Lagergeländes zurückließ. Das sah in seiner maroden Baufälligkeit vielerorts aus wie Hinterlassenschaften aus der nationalsozialistischen Zeit, war aber erst in den Jahren danach entstanden. Wenigstens im Bereich des ehemaligen Stammlagers sind diese Überschreibungen zurückgebaut, das Gelände ist komplett zugänglich. Leider gilt das immer noch nicht für die Bereiche des erweiterten südlichen Frauenlagers, des Siemenslagers und des Jugendkonzentrationslagers Uckermark, denn Ravensbrück war ein Lagersystem großen Ausmaßes. Seit Jahren fordert die aus ehemaligen Häftlingen und einem Unterstützerkreis bestehende Lagergemeinschaft eine Einbeziehung aller Bereiche in die Gedenkstätte – seit Jahren vergebens. So bleibt für den heutigen Besucher der Gedenkstätte die Ausdehnung des Lagers nur zu erahnen – beim Blick über die wüste Leere des ehemaligen Stammlagers. Womit sich ihm aber ein wichtiger Kontrast auftut zum Eingangsbereich des Lagers, wo die Aufseherinnen in komfortablen Mehr-Appartement-Häusern im bayerischen Landhausstil untergebracht waren. Zu sowjetischer Zeit von den Offizieren genutzt, danach vandalisiert, wusste die Stadt Fürstenberg lange nicht, was mit diesen Gebäuden anzufangen sei. Hinzu kam die leidige Episode aus der unmittelbaren Nachwendezeit, als Schlagzeilen um die Welt gingen, in Fürstenberg baue man im ehemaligen KZ-Bereich einen Supermarkt. Die weltweite Empörung steckt allen Beteiligten noch heute in den Gliedern und hat sie vorsichtig werden lassen. Nach langen Jahren des Hin und Her wurden acht der Aufseherinnenhäuser renoviert und zu einer Jugendherberge, einem Museum über die Täterinnen und einem Haus für die Lagergemeinschaft umgebaut.

Wie die Zukunft aussieht? Man darf gespannt sein, wie Ravensbrück, wie überhaupt die Gedenkstätten zur Erinnerung an den nationalsozialistischen Terror den Verlust der Zeitzeugen verkraften werden. Denn selbst noch so zahlreich vorhandene schriftliche oder audiovisuelle Zeugnisse werden die Menschen aus Fleisch und Blut kaum ersetzen können. Die Präsenz ehemaliger Häftlinge von Ravensbrück wird um so mehr fehlen, als die Auseinandersetzung mit den nationalsozialistischen Verbrechen sich seit den achtziger Jahren so intensiv auf Biografien konzentriert hat. Bleibt zu hoffen, dass die sicherlich notwendige und wünschenswerte Erforschung der nationalsozialistischen Übel und ihre aufwendige Präsentation andere Aspekte des Gedenkens nicht dominiert. Denn die Historisierung kann die sinnliche Auseinandersetzung mit dem Ort, der ja auch ein Friedhof ist, nicht ersetzen. Deshalb gilt es auch, über die Hinzufügung neuer Bauten – wie des 2008 fertig gestellten schicken Besucherzentrums – und die Veränderungen der nationalen Gedenkräume im Zellenbau kritisch nachzudenken. Und sich klarzumachen: Die eine richtige Lesart des Ortes gibt es nicht.


Stefanie Oswalt arbeitet als Autorin und Journalistin in Berlin. 1999 entwickelte sie gemeinsam mit Stefan Tischer und Philipp Oswalt beim landschaftsarchitektonischen Ideenwettbewerb zum Umgang mit dem Gesamtgelände Ravensbrück einen Entwurf, der mit dem ersten Preis prämiert und teilweise realisiert wurde

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