Als würde die Nacht das Okay geben. Die Barriere überwinden, die im Kopf besteht. Als würde sie mit ihrem blassen Mondlicht absegnen, was am Tag undenkbar wäre. In der Nacht entschuldigt sich keiner für das, was er ist und was er tut. Dann kann so vieles ohne Bedauern passieren.
Es ist Sonntagnacht, kurz nach eins. Der Wind, der tagsüber durch die Stadt pfiff, hat sich gelegt. Jetzt ist es still. Bis auf die schmatzenden Geräusche der Schuhe, die über den matschigen Weg im Berliner Tiergarten laufen. Hier treffen sich Menschen auf der Suche. Sie tragen Kapuzen, dunkle Jacken, treten auf Zehenspitzen aus Büschen hervor, schlurfen scheinbar ziellos umher oder stehen einfach nur da. Es sind ausschließlich Männer, die schnellen Sex mit einem anderen Mann suchen.
Einer von ihnen ist Mischa Badasyan. „Da, hinter diesem Baum hab ich irgendwann nach Mitternacht noch Silvester gefeiert“, erzählt er. Badasyan kommt öfters hierher. „Geredet wird nicht viel, oft reicht ein kurzer Blick.“ Cruising areas nennen sich diese Treffpunkte homosexueller Männer für anonymen Sex. Hier finden sie den benötigten Kick. Oder lassen das zu, was sonst verborgen bleibt: „Ich hatte schon mit einigen was, die eine Freundin zu Hause sitzen haben“, erzählt Badasyan. Während er spricht, wandert sein Blick umher. Er verhält sich anders als die anderen hier, er wirkt selbstbewusster und redet laut. Aber auch gehetzt: „Wenn ich gleich keinen finde, muss ich halt ins Ficken 3000.“ Eine Bar mit angeschlossenem Darkroom.
Sexuelle Nicht-Orte
Ein Jahr lang schläft Badasyan jeden Tag mit einem anderen Mann. Aus Forschungszwecken. Er ist Performancekünstler, Save the Date heißt sein aktuelles Projekt, das ergründen soll, wie Sexualität und das Gefühl der Einsamkeit zusammenhängen. Vor allem in einer Großstadt wie Berlin sei das ein brisantes Thema, sagt er. „Hier ist doch alles immer und überall möglich. Du willst dich gut fühlen, gehst ins Berghain, lebst dich sexuell aus und wachst mit einem beschissenen Gefühl am Morgen auf.“ Daran ist die Umgebung nicht ganz unschuldig. „Sexuelle Nicht-Orte“ nennt Mischa jene Plätze, die das sexuelle Erlebnis quasi im Vorbeigehen ermöglichen. Die Grundidee dazu ist abgeleitet von Marc Augé, einem französischen Anthropologen, der mit seiner Theorie der „Nicht-Orte“ den konventionellen Orten mit ihrer eigenen Geschichte eine neue Variante gegenüberstellte. Bahnhöfe, Autobahnen, Supermärkte – sogenannte „Nicht-Orte“– sind Räume ohne Identität, in denen die menschliche Kommunikation verwahrlost. Und alles nur noch vorübergehend, temporär und austauschbar ist.
Diese Flüchtigkeit erkennt Badasyan auch in modernen Beziehungen. Wenn Erfahrungen mal eben so mitgenommen werden, als sei das Leben ein prall gefülltes Supermarktregal. Er ist 27 und hatte noch nie eine feste Beziehung. Während er davon erzählt, suchen seine Blicke die Erwiderung der vorübergehenden Männer im Park. Einige gucken kurz, senken den Kopf und schleichen weiter. So als ob sie sich ertappt fühlen. Andere wiederum holen das Handy aus der Tasche, weil sie ihre Schritte verlangsamen und das vorhandene Angebot im Park verstohlen abchecken wollen. Und bei manchen endet die nächtliche Suche beinahe wortlos hinter einem Busch.
Hier wird konsumiert. So viel, so lange und wen man will. „Das mag am Anfang ganz geil sein“, sagt Badasyan, „ist auf Dauer aber echt traurig.“ Viele treibe die Einsamkeit hierher. „Und die meisten gehen noch einsamer wieder nach Hause.“ Sex sei an diesen Orten nämlich kein Rezept gegen Einsamkeit. „Er ist selbst der Ausdruck von Einsamkeit“, erklärt er.
Seit September hat er nun jede Nacht mit einem anderen Mann geschlafen. Was hat das mit ihm gemacht? Er sei aggressiver und abgestumpfter geworden, erzählt er. „Ich arbeite 24 Stunden, sieben Tage die Woche. Und auch wenn ich es nicht mag, allein zu sein, hatte ich doch Tage, an denen ich froh war, für wenige Stunden mit mir selbst allein sein zu können.“ Es gebe zwar auch schöne Momente beim anonymen Sex, aber meistens sei all das nur traurig und anstrengend.
Eine „Installation von Einsamkeit“ nennt Badasyan sein Projekt, ein soziales Experiment, das der flüchtigen Gesellschaft den Spiegel vorhalten soll. Dafür müsse er kompromisslos über seine Grenzen gehen. „Ich habe keine Lust, Kunst zu machen, die an der Wand hängt und für alle schön ist.“ Nach jedem Date nimmt Badasyan eine Kleinigkeit mit: ein Blatt aus dem Park, eine leere Dose, ein Stück Papier oder eine Zahnbürste. Irgendetwas, um diese Geschichte mit diesem Menschen an diesem Ort festzuhalten. Am Ende des Projekts entsteht daraus eine Installation aus 365 Objekten. Nach jedem Date filmt er sich außerdem für ein Videotagebuch. Und für einen Dokumentarfilm wird er zeitweise von einem Regisseur begleitet.
Die Kunst ermögliche es ihm, sich tabuisierten Themen ganz offen zu stellen. Deswegen stellt sich Badasyan zuallererst selbst aus. Weil er herausfinden will, was dieses serielle Dating mit ihm ganz persönlich macht. Weil er wissen will, wie es sich anfühlt, Menschen zu konsumieren und von Menschen tagtäglich konsumiert zu werden. Und um herauszufinden, wieso von der Fülle an Optionen letztendlich nur das Gefühl der Leere übrig bleibt. „Die Freiheit, alles tun zu können, hat auch ihre Schattenseiten“, sagt Badasyan.
Bei aller Kritik weiß er diese Freiheit aber zu schätzen. In seinem Heimatland existiert sie so nicht. Badasyan ist Armenier und in Russland geboren. Vor sieben Jahren flüchtete er aus dem Land, in dem er nur versteckt leben konnte. Wer schwul oder lesbisch sei, brauche Heilung, verkünden führende russische Politiker öffentlich. Wer vor russischen Jugendlichen über Homosexualität rede, zerstöre ihre Reinheit und wolle sie verführen. Auf diese „homosexuelle Propaganda“ steht Freiheitsentzug.
Und wer sich als homosexuell outet, lebt sehr gefährlich: „Als ich meine Eltern vergangenes Jahr an Weihnachten in Russland besuchte, hab ich mich in einem Gay-Chat zu einem Date verabredet. Als ich – wie abgesprochen – in die genannte Wohnung kam, erwarteten mich statt des Dates acht Nazis. Die hatten Elektroschocker und Knüppel dabei. Und machten peinliche Videos von mir, die sie online stellten. Dadurch wurde ich in Russland zwangsgeoutet und habe die Hälfte meiner Freunde dort verloren.“ Während er davon erzählt, wirkt Badasyan sehr gefasst. Er hat sich auf eine Bank im Park gesetzt. Die Hände in den Jackentaschen. Seine Augen starren zum ersten Mal geradeaus. So als ob ihm die vorbeiziehenden Männer für einen kurzen Moment völlig egal seien.
„Nur meine Eltern wissen bis heute nicht, dass ich auf Männer stehe“, fährt er fort. „Für die wäre das ganz schlimm.“ Seine Stimme wird leiser, er blickt kurz nach unten. „Für mich ist klar, dass ich nie wieder zurück nach Russland gehen werde“, sagt er sehr bestimmt. „Aber auch hier in Deutschland, hier in Berlin ist Homophobie ein Thema. Klar, meine Kunst soll versteckte Tabus brechen und die Diskussion über Homophobie entfachen, aber sie ist zuallererst nicht politisch motiviert. Es ist ein sehr persönlicher Versuch, zu verstehen, warum ich heute Morgen vermutlich wieder weinen werde, wenn ich zu Hause angekommen bin.“
Ein gemeinsamer Morgen
Badasyan steht langsam auf, nimmt die Hände aus den Taschen und setzt diesen ganz bestimmten Blick auf. Er zieht eilig davon. So langsam wird es hell im Park. Nur noch vereinzelt schlurfen Männer herum. Badasyan muss sich beeilen. „Warst du schon auf der anderen Parkseite?“ Selbstsicher tritt er auf einen der ersten Männer zu, die ihm entgegenkommen. „Nee, ich komme vom Ausgang“, antwortet der Unbekannte, hörbar nervös. „Ich wohne hier vorne“, setzt er nach. „Wie? Du wohnst im Wald?“, fragt Mischa schmunzelnd. Der Unbekannte muss lachen, vielsagende Blicke werden ausgetauscht.
Am nächsten Tag am Telefon erzählt Mischa, dass für beide schnell klar war, dass sie es hier im Park machen würden. Dass sie sich umdrehten und zusammen eine ruhige Stelle suchten. Dass sie sich auf dem Weg dorthin miteinander unterhielten und danach noch über dies und das diskutierten. Dass sie den Morgen so nicht wieder jeder für sich allein begrüßten. Auch wenn sie sich wohl trotzdem niemals wiedersehen werden.
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