Vor sechzig Jahren begann der Aufstand im Warschauer Ghetto, der zum einzigartigen Symbol des Jüdischen Widerstands gegen den deutschen Massenmord wurde. Während die öffentlichen Gedenkrituale sich auch in diesem Jahr kaum von denen früherer Anlässe unterscheiden dürften, scheint sich die schriftliche Erinnerung schon seit längerem in einer Übergangsphase zu befinden. So wird das öffentliche Gedenken an den Völkermord seit einiger Zeit selbst Gegenstand historischer Analysen, und gleichzeitig erscheinen immer noch individuelle Zeugnisse von Überlebenden, die bisher geschwiegen haben oder deren Zeugnisse erst jetzt auf verlegerisches Interesse stoßen.
Alina Margolis-Edelman beispielsweise schrieb ihre Erinnerungen erst sehr spät auf, nachdem, wie sie selbst bemerkt, eigentlich schon alles gesagt sei. Die Autorin, Tochter zweier Ärzte aus Lodz, geriet als Jugendliche mit ihrer Mutter und ihrem kleinen Bruder nach der Verschleppung des Vaters ins Warschauer Ghetto. Dort arbeitete sie zunächst als Schwesternschülerin, bevor es ihrer Mutter gelang, erst den Bruder und dann Alina auf die »arische« Seite zu schmuggeln. Mit falschen Papieren überlebte Alina Margolis bei einer antisemitischen polnischen Familie und war gleichzeitig als Kurierin für den jüdischen Untergrund tätig. In ihrem Bericht mischt sich nicht nur die Perspektive des jungen Mädchens von damals mit dem Wissen von heute, sondern auch Alltägliches mit Horror, Verliebtheit mit Verrat, Korruption mit Mut.
Die Größe des Buches liegt in der kleinen Form, in den kurzen Episoden, den Geschichten und Portraits, aus denen es sich zusammensetzt und in denen das »Eigentliche«, der monströse Hintergrund des Geschilderten immer präsent bleibt, ohne explizit benannt zu werden. Denn Alina Margolis-Edelman geht davon aus, dass sie nichts mehr erklären muss, dass jeder weiß, was der »Umschlagplatz« war oder was am 18. Januar 1943 passierte. Inwieweit dies wirklich der Fall ist, sei dahingestellt, und ob ein solches Buch noch in 20 Jahren verstanden werden kann, erst recht. Denn schon heute beschleicht einen ab und zu der Verdacht, dass vor lauter Gedächtnistheorie die historischen Ereignisse aus dem Blick geraten.
Dies nun ist ein Vorwurf, den man dem jungen Historiker Markus Meckl nicht machen kann. Der Mitarbeiter am Berliner Zentrum für Antisemitismusforschung hat sich in seiner Dissertation ausführlich mit den unterschiedlichen Instrumentalisierungen des Aufstands beschäftigt, die alle im Grunde nach einem ähnlichen Schema funktionieren, ob sie nun der zionistischen, polnisch-nationalen oder antifaschistischen Traditionsbildung dienen. So erfährt man erstaunliche Dinge, etwa von einer Kranzniederlegung der PLO am Warschauer Ghettodenkmal 1983 oder einer Pressemitteilung der Grünen aus demselben Jahr, in der der Aufstand mit dem Kampf gegen die Atomindustrie verglichen wird.
Meckls wichtigstes Anliegen aber ist die Entmystifizierung des Heldensaga, die den Aufstand bis heute umgibt. Dies ist um so wichtiger, als das Thema »Jüdischer Widerstand Heroismus« - auch in seiner feministischen Variante - seit den neunziger Jahren in Deutschland eine wahre Renaissance erlebt. Fast scheint es, als würde eine neue Generation hier ein identifikatorisches Nachholbedürfnis ausleben, das in anderen Ländern schon Jahre früher abgearbeitet worden ist.
In welch starkem Maße aber diese Einvernahmen des Aufstands auf einem erstaunlich gleichförmigen, geradezu klassischen Heldenbild aufbauen, ja ohne dieses gar nicht funktionieren könnten, war eigentlich schon in den siebziger Jahren deutlich geworden, als einer der Beteiligten, nämlich Marek Edelman, sich dieser Form der ästhetisierten Erinnerung öffentlich verweigerte. Für diese Regelverletzung erntete er scharfe Kritik und persönliche Angriffe. Ohne seine »Gegenerzählung« des Aufstands jedoch wäre es Historikern wie Markus Meckl kaum möglich gewesen, hinter die Kulisse des Warschauer Aufstandsheroismus zu blicken.
Insofern hat Meckls Anti-Heldenbuch am Ende doch noch einen heimlichen Helden: den furchtlosen Tabubrecher Edelman. Und ob es nun Zufall ist oder nicht: Es sind gerade Bücher wie die leisen, unprätentiösen Erinnerungen von dessen Frau Alina, die Möglichkeiten aufzeigen, heute ohne Sinnstiftungsgebaren und moralische Funktionalisierungen vom Warschauer Ghetto zu erzählen.
Literatur:
Alina Margolis-Edelman, Als das Ghetto brannte. Eine Jugend in Warschau, Berlin (Metropol) 2000.
Markus Meckl, Helden und Märtyrer. Der Warschauer Ghettoaufstand in der Erinnerung, Berlin (Metropol) 2000.
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