15 Millionen ohne Minister*in

Osten Merkels CDU-Minister sind benannt. Was der CDU ein innerparteilicher Burgfrieden mit leichter Erneuerung ist, ist dem Osten unserer Republik ein Schlag ins Gesicht

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Die Wiedervereinigung ist mehr als publikumswirksame Folklore. Gerade für den Osten ist sie nach wie vor ein fortlaufender Prozess
Die Wiedervereinigung ist mehr als publikumswirksame Folklore. Gerade für den Osten ist sie nach wie vor ein fortlaufender Prozess

Foto: Sean Gallup/Getty Images

Eines sei meinem Kommentar vorangestellt:

Ich selbst wurde 1987 in der Deutschen Demokratischen Republik geboren. Dabei bin ich kein Ostdeutscher und auch kein Westdeutscher – und dennoch bin ich beides. Ich gehöre der hybriden Generation, wie ich sie nenne, an. Sie ist dadurch gekennzeichnet, dass sie in Zeiten der politischen Wiedervereinigung familiär ostdeutsch und systemisch westdeutsch sozialisiert wurde. Es ist unsere Generation, der eine wichtige Aufgabe zuteil wird, denn wir sind in der Lage und auch in der Pflicht, die ost- und westdeutschen Denkstrukturen in beide Richtungen zu übersetzen.

Merkels CDU-Minister sind benannt. Was der CDU ein innerparteilicher Burgfrieden mit leichter Erneuerung ist, ist dem Osten unserer Republik ein Schlag ins Gesicht: Mutmaßlich werden dem Kabinett keine Ostdeutschen angehören. Nun mag man frohlocken, die Kanzlerin sei Ostdeutsche und repräsentiere sie auch. Doch ist dem so? Kann eine Regierungschefin jedes Ressort ihres Kabinetts noch einmal auf die Auswirkungen im Osten unseres Landes überprüfen? Nein, sie hat gesamtdeutsch zu agieren.

Es geht hierbei nicht um das Aufwärmen alter Konflikte wie den „jammernden Ossi“ oder den „besserwissenden Wessi“, sondern um das Verständnis, dass die Wiedervereinigung ein anhaltender Prozess ist, der wohl erst in den Generationen nach uns völlig vollzogen ist, den es andauernd zu thematisieren gilt. Ein kurzer Ausflug, was ich damit meine.

In einem früheren Blogbeitrag schilderte ich, dass Ostdeutsche durch die politische Wiedervereinigung Migrationserfahrungen mit sich bringen. Dabei handelt es sich aber nicht um eine individuelle, sondern um eine kollektive Migration. Denn nicht ein Mensch hat sein Land verlassen, sondern ein Land hat seine Menschen verlassen. Und hier greifen die typischen Annäherungsmuster von Fremden an eine neue Gruppe. Wir kennen das von Arbeit, aus dem Verein und aus dem Freundeskreis: Sobald man der Neue ist, muss man der Gruppe, der man zugehören will, erst Vertrauen entgegenbringen und Loyalität beweisen; der Gruppe zeigen, dass man deren Spielregeln versteht und anwendet. Doch genau das war der Punkt in der Wiedervereinigung. Niemand hat den Ostdeutschen erklärt, wie dieses neue System eigentlich funktioniert. Man hat sich darauf verlassen, dass wirtschaftlicher Wohlstand politische Integration mit sich bringt. Das hätte sicher auch funktionieren können, doch war die Realität eine andere: Der Wohlstand blieb lange Zeit aus, der politische Frust entsprechend groß.

Und dennoch versuchten die Ostdeutschen, das Beste daraus zu machen. Sie gingen arbeiten, verloren ihre Arbeit, gingen in Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen, schulten um, bauten vielleicht ein Haus, wurden falsch oder doppelt versichert, wurden hier und da mal über den Tisch gezogen, pflegten ihre Angehörigen und zogen ihre Kinder groß, die sie dann noch in den Sportverein brachten. Und ganz nebenher mussten sie verstehen und lernen, wie diese neue Gesellschaft politisch und wirtschaftlich funktioniert. Letztlich sind Ostdeutsche demokratische Autodidakten, die sich das Verständnis über das Funktionieren des neuen Systems selbst aneigneten. Zwar gab es demokratische Aufbauhilfe, die aber betraf nur die Parteien und nicht die breite Bevölkerung. So wurde der Generation unserer Eltern ein Wissen über eine ostdeutsche Gesellschaft gelehrt, das sie in der neuen gesamtdeutschen Gesellschaft nie anwenden konnte. Heute stehen wir daher mitunter vor dem Problem, dass die autodidaktischen Erkenntnisse nicht immer dem entsprechen, wie unser politisches System tatsächlich funktioniert. Hier muss nachgesteuert werden.

Dass die Generation unserer Eltern es dennoch schaffte, im neuen System zu bestehen und ihre Kinder groß zu ziehen und nicht den Kopf in den Sand zu stecken, dafür gebührt ihnen mein großer Respekt. Chapeau, liebe Ostdeutsche!

Warum also ist eine Ministerin oder ein Minister aus dem Osten so wichtig? Es geht stellvertretend für 15 Millionen Menschen im Osten unserer gemeinsamen Republik darum, diese erbrachte Lebensleistung anzuerkennen und ihnen eine Repräsentation zu geben. Die SPD hat ihre Ministerinnen und Minister offiziell noch nicht benannt. Sie hätte die Chance eine Frau wie Petra Köpping, aktuell sächsische Integrationsministerin, diese Repräsentantin werden zu lassen.

Wir müssen ehrlich für den Osten kämpfen, denn wenn es nicht die demokratischen Parteien tun, übernehmen das andere. Die Wiedervereinigung ist ein fortwährender Prozess. Das muss am Kabinettstisch verstanden werden.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Stefan Krabbes

Blogger & Speaker zu Digitalisierung & Demokratie.twitter: @stefankrabbes

Stefan Krabbes

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