Deutschland, September 2016

Gesellschaft & Politik Nichts ist anders - alles wie immer. Doch trotz der noch warmen Temperaturen, herrscht ein fast schon eisiges Klima in der Politik. Es wird Herbst

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Umstritten: Angela Merkel
Umstritten: Angela Merkel

Bild: TOBIAS SCHWARZ/AFP/Getty Images

Deutschland im September 2016. Der Sommer liegt in den vorletzten Zügen. Die Lichtverhältnisse ändern sich und ganz langsam stellt man sich auf den Herbst ein. Trotz des wechselhaften Wetters ist es meistens sonnig und klar. Nichts ist anders - alles wie immer. Doch trotz der noch warmen Temperaturen herrscht ein fast schon eisiges Klima in der Politik. Es wird Herbst.

Man muss kein Soziologe sein, um festzustellen, dass sich unsere Gesellschaft grundlegend verändert hat. Der Ton ist rauer geworden, die Hemmschwellen sind gesunken und die hart erkämpften – doch schon so sicher geglaubten – humanistisch-liberalen Grundwerte stehen auf dem Prüfstand. "Willkommensklatscher", "links-grün-versifft", "Merkel-muss-weg" und "Gutmensch" sind Begriffe, die den Zustand unserer deutschen Gesellschaft am besten beschreiben. Sie bedürfen keiner Erklärung. Wer heute despektierlich über Menschen redet, die Flüchtlingen helfen oder sich in demokratischen Parteien einbringen, dem ist Applaus gewiss, denn "endlich sagt es mal einer". Es ist populär geworden Inkonsistentes in einen pseudo-politischen Deckmantel zu packen - und fast alle machen mit. Zum Beispiel Parteien und Bewegungen, die den Rücktritt der Bundeskanzlerin oder zumindest den Amtsverzicht zur Bundestagswahl fordern. Sie beeinflussen die Meinungen der Bürgerinnen und Bürger dahingehend, dass diese es unverblümt nachplappern.

Doch war nicht Angela Merkel schon immer DIE Kanzlerin der Deutschen schlechthin? Ja, es gab sie mal, die Zeit, als Angela Merkel als die unbestrittene Nummer Eins des Landes galt und sich jegliche Kritik an ihr wie von selbst verbot. Das war die Zeit als Merkel noch "Mutti" war. Und diese Rolle füllt sie aus. Wie eine Mutti hat sie die Probleme des Landes abmoderiert, wurde zur Managerin vieler Krisen und ließ die Bevölkerung trotz alledem nicht viel spüren. Außer der Erhöhung der Mehrwertsteuer gleich zu Beginn ihrer Kanzlerschaft (was man im Übrigen der SPD übel nahm) hat sie dem eigenen Volk nie viel zugemutet. Deutsche lieben ihre Routine – auch wenn diese durch gesellschaftlichen Stillstand gekennzeichnet ist. Gab es dennoch mal strittige Themen, dann verließ Merkel sich auf die gesellschaftlichen Mehrheitsverhältnisse, die das Bundeskanzleramt über regelmäßige Umfragen in Erfahrung brachte. Doch diese Zeit ist vorbei.

Mit ihrer Politik brach Merkel, als sie einen humanistischen Kurs in der Flüchtlingspolitik einschlug. Es endete die Kontinuität vieler Bürgerinnen und Bürger. Aus Teflon-Merkel wurde die Flüchtlings-Kanzlerin. Ein Graus für viele Menschen, die Merkel wählten, weil sie sie doch in Ruhe ließ. Plötzlich war die Welt eine andere: Die Probleme, die sonst immer Sache "der Politik" waren, weit weg schienen und durch Merkel gelöst wurden, brauchten nun vor Ort Antworten und Maßnahmen aus Politik und Gesellschaft. Bei Vielen endete spätestens hier – nachdem schon zuvor das Euro-Rettungspaket für Griechenland umstritten war – die Bereitschaft, Merkels Kurs weiter zu unterstützen. Merkels "Wir schaffen das" wirkte auf die Menschen plötzlich wie ein Aufruf, sich in die Gesellschaft mit einbringen und dabei auf lieb gewordene Gewohnheiten verzichten zu müssen.

Es ist September in Deutschland und Angela Merkel ist Freiwild. Jeder darf eine Meinung zu Angela Merkel haben – vorausgesetzt man verteidigt sie nicht. Zur dumpfen Kritik von Rechtspopulisten gesellen sich zunehmend auch Politiker aus CDU, CSU, SPD und Linken. Diesen Anti-Merkel-Kurs und den Rechtstrend mitzugehen, scheint vielen lukrativ. Kritik an der Bundeskanzlerin scheint gerade en vogue und Politiker wie Gabriel, Seehofer und Wagenknecht stürzen sich auf Merkels Flüchtlingspolitik, in der Hoffnung noch ein paar AfD-Wählerinnen und Wähler zurück ins eigene Lager zu holen. Das ist kurzsichtig, falsch und verlogen.

Lassen die Unionsparteien die Bundeskanzlerin fallen wie eine heiße Kartoffel, spielt das der AfD in die Hände und lässt sich noch weiter von ihr jagen, wie es jüngst Alexander Gauland zugab. Viel wichtiger aber noch: Sie würde das Pferd im Stall lassen, dass den sichersten Sieg bedeutet. Warum? Es gibt aktuell schlichtweg keine Person, die fähig genug wäre, Angela Merkel im Amt der Bundeskanzlerin beerben zu können – weder in der CDU/CSU noch aus der SPD. Merkel mag für die konservativen in der CDU nicht mehr wählbar sein, für viele Menschen, die sonst gesellschaftspolitisch eher mitte-links zu verorten sind, ist sie es aber. Solange es keine ernstzunehmende Alternative zu Angela Merkel gibt, müsste man – um sie zu behalten – CDU wählen.

Im blinden rechts-populistischen Aktionismus bemerken aber weder CDU, SPD und Linke, dass sie im Begriff sind, den konservativen Teil ihrer Wählerschaft an die AfD und den linksliberalen an Grüne und FDP zu verlieren. Gerade die CDU ist auf Merkel angewiesen.

Man kann vieles an der Politik von Angela Merkel kritisieren: Etwa ihren Zick-Zack-Kurs beim Atomausstieg, ihr Bauchgefühl bei der Ehe für Alle, ihre zaghaften Reaktionen auf die NSA-Affäre, ihre Euro-Rettungspolitik. Man kann viele Dinge anführen. Dass sie aber eine humanistische Position eingenommen hat in Zeiten, als es niemand sonst in Europa tat, zeugt von großer innerer Stärke.

Kurzum: Die Parteien sind gut beraten, polemisches Merkel-Bashing und den Wettbewerb um die rechtesten Positionen zu beenden, denn jede dieser Debatten zahlt auf das Konto der AfD ein. Viel wichtiger ist es hingegen, die eigenen Ziele wieder in den Mittelpunkt der Politik zu stellen. Was macht die SPD zur SPD? Was macht die Linke zur Linken? Was macht die Grünen zu den Grünen? Die Parteien müssen es wieder schaffen, den Menschen ihre Geschichte von Deutschland in Europa zu erzählen. Wohin soll es gehen? Was sind die nächsten großen Projekte und welche möglichen Regierung können diese umsetzen? Die Parteien müssen es schaffen ihre Wählerinnen und Wähler zu erreichen, in dem sie ganz konkrete Angebote schaffen und sagen, wofür sie stehen und nicht gegen welche rechtspopulistische Partei sie kämpfen, denn das wertet diese nur noch auf. Es ist an den demokratischen Parteien, endlich wieder eigene Themen zu setzen und nicht als Spielball von geschickten aber durchschaubaren AfD-Strategien zu dienen. Dieses Spiel spielt die AfD mit den anderen Parteien schon zu lange. In der Zwischenzeit haben wir wertvolle Zeit verloren, in der wir darüber geredet haben, was wir alles warum nicht schaffen. Das ist nicht mein Verständnis von Politik.

Ich will nicht wissen, was alles nicht geht, sondern was geht. Politik ist die Kunst der Möglichkeiten und nicht die der Unmöglichkeiten. Gönnen wir unserem Land also etwas Gutes und gestalten es wieder so, dass wir später sagen können: "Wir haben unserem Land jeden Tag ein bisschen mehr ermöglicht." So geht Politik.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Stefan Krabbes

Blogger & Speaker zu Digitalisierung & Demokratie.twitter: @stefankrabbes

Stefan Krabbes

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