„Die Kirche muss sich bewegen“

Interview Die Journalistin und Juristin Beatrice von Weizsäcker im Gespräch über den Einfluss der Digitalisierung auf den Glauben, die Kirchen und die Religionen

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Kirche, Glaube und Religion auf der einen, zunehmende Digitalisierung und Vernetzung auf der anderen Seite. Wie passt das zusammen?
Kirche, Glaube und Religion auf der einen, zunehmende Digitalisierung und Vernetzung auf der anderen Seite. Wie passt das zusammen?

Foto: Sean Gallup/Getty Images

Stefan Krabbes: Frau von Weizsäcker, ob Staat, Wirtschaft oder Gesellschaft; die Digitalisierung verändert alles. Mich interessiert aber ein weiterer Aspekt, der in der ganzen Debatte um die Digitalisierung ein Nischendasein fristet, obwohl er einen elementaren Teil in der öffentlichen Diskussion ausmacht. Nämlich ihr Einfluss auf die Religion. Als Mitglied des Präsidiums des evangelischen Kirchentages sind Sie eine aktive und laute Christin, wie man nicht zuletzt auch an Ihrer gemeinsamen Petition mit dem Europaabgeordneten Sven Giegold und dem Historiker Ansgar Gilster feststellen konnte. Ich würde gerne von Ihnen wissen, wie verändert die Digitalisierung aus Ihrer Sicht die Kirche, die Religion und den Glauben?

Beatrice von Weiszäcker: Das sind gleich drei Fragen, denn Kirche, Religion und Glaube sind keine Synonyme. Die Digitalisierung wirkt sich auf die drei Bereiche unterschiedlich aus – mit unterschiedlichen Folgen: Von der Kirche verlangt sie Beweglichkeit, von der Religion (und ihren Vertretern) Ehrlichkeit und Charakter. Beim Glauben ist das anders. Ob und wie die Digitalisierung den Glauben verändert, kann jede und jeder nur für sich beantworten.

Ich sehe vor allem die ungeheuren Chancen der digitalen Welt. Eine Petition wie die unsrige wäre ohne das Internet nicht denkbar. Der ungeheure Zuspruch, den wir innerhalb kürzester Zeit bekommen haben, zeigt, wie weit verbreitet die Sorgen um eine humane Flüchtlingspolitik sind. Und sie zeigt, wie aufrichtig man im Internet kommunizieren kann, wie ernsthaft man sich verständigen, wie respektvoll man miteinander umgehen kann. Die Behauptung vieler Skeptiker, das Internet polarisiere bloß, vereinfache und schüre plumpe (Vor-) Urteile, kurz, das Netz sei des Teufels, ist bestenfalls die halbe Wahrheit.

Mich interessiert die andere Hälfte.

Zur Person

Beatrice von Weizsäcker, geboren 1958, ist promovierte Juristin und arbeitete viele Jahre als Journalistin in Berlin. Seit 2003 lebt sie als freie Autorin in München. Sie ist Mitglied im Präsidium des Deutschen Evangelischen Kirchentages und Co-Initatorin der Petition „Flüchtlingspolitik in Europa: Erst stirbt das Recht, dann der Mensch“

Foto: DEKT/Jens Schulze/Wikimedia (CC BY-SA 3.0 DE)

Die Epoche der Digitalisierung ist auch dadurch gekennzeichnet, dass in vielen Bereichen die klassische Funktion des Intermediärs entfällt. Die Menschen brauchen für das Banking keine Banken mehr, um Schriften zu verbreiten oder sich zu informieren, brauchen sie keine Verlage mehr. Braucht man heute dann überhaupt noch die Kirche, um zu glauben?

Die Frage stellt sich ja nicht erst seit der Digitalisierung. Sie rührt an das Selbstverständnis „der Kirche“ schlechthin. Wenn Sie mit Leuten reden, die der Kirche den Rücken gekehrt haben, und sie fragen: Und was ist mit deinem Glauben? Dann hören Sie oft: An dem hat sich nichts geändert. Die Frage, die Sie stellen, ist immer und schon immer gewesen: Brauchen „die Menschen“ „die Kirche“ für ihren Glauben? Die Antwort ist: Nein.

Ich kenne viele Leute, die tiefe Glaubenserfahrungen gemacht haben – nur eben nicht in der Kirche. Wie viel hängt von der Pfarrerin, vom Seelsorger ab, von Menschen eben. Und nicht von der Institution. Dass wir uns nicht missverstehen: Ich wollte ohne die Kirche nicht leben. Die Gottesdienste, die „Ordnung“, die sie in meine Leben bringt, sind elementar wichtig für mich. Ich brauche den Raum, das Kreuz, die Orgel, die Predigt, das Gebet, die Andacht, die Stille, den Frieden – all das.

Gleichwohl bleibt richtig: „Die Menschen“ brauchen „die Kirche“ nicht, wenn es um Glaubensfragen geht. Aber die Kirche braucht die Menschen. Klingt brutal, ist aber so. Mit der Digitalisierung hat das nichts zu tun.

Würden Sie sagen, dass die Kirche in der digitalen Welt angekommen ist oder muss sie sich noch strecken?

Die Kirche muss sich auf jeden Fall noch mehr bemühen. Muss sich öffnen und bewegen. Da ist noch sehr viel Luft nach oben.

Ich will niemanden den guten Willen absprechen, wer bin ich! Aber wenn ich mir anschaue, wie umständlich und behäbig meine bayerische Landeskirche an das Thema herangeht, kann ich mich nur wundern. Da werden Gremien gebildet, Arbeitsgruppen installiert, Prozesse in Gang gesetzt. Alles bleibt in diesen kircheninternen Gruppen. Ich habe mal versucht, via Facebook die Strukturen zu durchschauen. Ich bekam freundliche Antworten mit Hinweisen auf diverse Links, die alles erklären sollten. Danach habe ich noch weniger verstanden als zuvor. Mein Eindruck war, und der muss nicht stimmen: Beteiligung und Transparenz sind nicht gewünscht – und damit ausgerechnet die Vorzüge, die das Internet ausmachen.

Ich finde das schade. Aber es macht mir nichts aus. Ich bin ja kein Ungustl.

Es ist kein deutsches Problem. Fast alle westlichen Gesellschaften befinden sich aktuell in ähnlichen Separationsprozessen. Die Digitalisierung begünstigt diese zunehmende Individualisierung. Wenn man auf die USA, Großbritannien, Ungarn, Polen und Co. blickt, gewinnt man den Eindruck, dass auch Staaten diesem Individualisierungsdrang unterliegen und ihr Heil in nationalen Lösungen suchen. Die UNO ist aktuell wirkungslos, die EU noch zu sehr mit sich selbst beschäftigt. Aber wie kann man in einer Welt der Unikate noch (welt)gesellschaftlichen Zusammenhalt organisieren und kommt nicht gerade den Religionen, aufgrund ihrer weltumspannenden Strukturen, hier eine hervorgehobene Ordnungs- und Wertefunktion zu?

Da wäre ich vorsichtig. Natürlich liegt der Gedanke nahe, nach den Religionen / den Kirchen zu rufen, wenn die Welt auseinanderfliegt. Gleichzeitig sind es aber oft die Religionen, die zu Konflikten beitragen. Religionen und Kirchen sollten Angebote machen, mehr aber nicht. Mir wäre es viel lieber, die Staatengemeinschaft würde sich auf ihre Grundprinzipien zurückbesinnen und sie wieder ernstnehmen: die Würde des Menschen, den Minderheitenschutz, das Demokratieverständnis.

Man kann diese Separationsprozesse als Folge der Globalisierung betrachten, die mit der Digitalisierung nun auch die Öffentlichkeit und die konkrete, individuelle Wahrnehmung erreicht. Diese Wirkmacht hatte sie beispielsweise in den 90er Jahren noch gar nicht. Der von Marshall McLuhan geprägte Begriff des Global Village wird allerdings immer wahrnehmbarer und scheint Teile der westlichen Gesellschaften zu überfordern. In diesem Global Village wird der öffentliche Diskurs allerdings von nur zwei Gruppen bestimmt: Von Rechtspopulisten auf der einen Seite und von religiösen Fanatikern auf der anderen Seite. Dabei bilden beide Seiten die Minderheit unserer Weltgesellschaft und die selbe Seite der Medaille, da sie die Werte einer freien, vielfältigen Gesellschaft fundamental ablehnen. Ihr Vorteil aber ist: Sie sind im Netz gut organisiert und entwickeln somit ihre Wirkmacht. Müssen die Kirchen, wollen sie Populisten und Fanatikern das Wasser abgraben, selbst aktiver im Netz werden?

Ja, natürlich. Denn wer das Netz nicht nutzt, vergibt eine unwiederbringliche Chance. Der darf sich nicht wundern, wenn Extrempositionen herrschen.

Mit Ihrer Petition „Erst stirbt das Recht, dann der Mensch“ nutzen Sie die neuen Mittel der digitalen Öffentlichkeit und haben bereits fast 100.000 Unterstützer*innen gewinnen können. Hierin fordern Sie europaweit die Kirchen auf, keine politische Rücksicht mehr zu nehmen, wenn es um die Verteilung der Menschenwürde geht. Wie wird es mit dieser Petition weitergehen? Worauf dürfen wir gespannt sein?

Wir hoffen, möglichst viele Menschen, aber auch möglichst viele Kirchenleitungen zu erreichen. Inzwischen haben sich die ersten deutschen Bischöfe unserem Aufruf angeschlossen. Das ist umso erstaunlicher, als sie ja zu unseren Adressaten gehören. Ich finde ihre Reaktion souverän. Sie zeigt, dass sie sich angesprochen fühlen. Und dass sie sich in der Pflicht sehen.

Eine für alle sichtbare Folge wird es Ende August geben. Da wird sich der EKD-Ratsvorsitzende Heinrich Bedford-Strohm in einer öffentlichen Internet-Diskussion den Fragen und der Kritik der Unterzeichner*innen stellen. Jede*r kann mitmachen. So etwas hat es noch nie gegeben. Eine Veranstaltung im Internet, wenn das nichts ist.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Stefan Krabbes

Blogger & Speaker zu Digitalisierung & Demokratie.twitter: @stefankrabbes

Stefan Krabbes

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