Wem die Zukunft Europas am Herzen liegt, hat die Wahl. Er kann es zum Beispiel wie die EU-Regierungschefs machen, die darüber nachdenken, wie man die politische Union schlagkräftiger und demokratischer machen kann. Später einmal. Vielleicht. Sollte ihnen der nächste Ausläufer der Finanzkrise nicht doch ein anderes Vorgehen diktieren. Das ist die eine Möglichkeit.
Die andere ist, auf die Bürger Europas zu setzen und diese Hoffnung am kommenden Dienstag auf die Probe zu stellen. Dann nämlich will das Europäische Parlament über das Handelsabkommen Acta abstimmen. Bisher haben alle Ausschüsse des Parlaments den Text durchfallen lassen. Nun hoffen die Kritiker, dass das Plenum das Abkommen endgültig beerdigt. Es wäre für Europa eine historische Entscheidung.
Denn bei der Abstimmung geht es nicht allein darum, ob der Kampf gegen Produkt- und Dateikopien die Zensur im Internet ausweitet oder Pharmakonzernen erlaubt, die Herstellung günstiger Medikamente zu unterbinden. Für Europa geht es dabei auch um die Frage, welchen Einfluss die Bürger in den Brüsseler Institutionen erringen können. Ob es also möglich ist, die Europäische Union zu demokratisieren.
Öffentlichkeit, endlich
Lehnen die Abgeordneten das Abkommen ab, wäre es jedenfalls erstmals einer länderübergreifenden Initiative von Netzaktivisten gelungen, nicht nur eine internationale Debatte auszulösen, sondern dieser auch handfeste politische Konsequenzen folgen zu lassen. Beeindruckt vom koordinierten Protest Zehntausender Menschen in fast allen Hauptstädten Europas, erklärten Lettland, Polen, die Slowakei und Tschechien schon im Februar, dass sie das Abkommen vorerst nicht unterschreiben würden. Das wiederum schreckte Außenminister Guido Westerwelle so sehr, dass er seine Weisung zur Unterzeichnung zurückzog. Nun also stehen die Europaparlamentarier vor der Entscheidung, ob sie den Druck von Straße und Datenautobahn ernst nehmen.
Früher warf man Internetaktivisten vor, dass sie mit ein paar Klicks für die gute Sache ihr Gewissen entlasten wollten, statt sich wirklich zu engagieren. Inzwischen warnen Kritiker schon, Europas Politiker dürften vor den Empörungswellen aus dem Netz nicht kuschen. Das ist ein gutes Zeichen. Es bedeutet, dass sich endlich im Kleinen eine gesamteuropäische Öffentlichkeit gebildet hat, die realen Einfluss auf die Politik ausüben kann – sogar gegen den Widerstand gut organisierter, mächtiger Wirtschaftsverbände.
Die digitalen Bürgerrechtler präsentieren ein Modell, wie eine gemeinsame Öffentlichkeit in Europa entstehen kann: über das Internet vernetzt, grenzübergreifend und an Interessen der Einzelstaaten und ihrer Industrien nur in zweiter Linie interessiert. In den vergangenen Jahren hat eine Avantgarde internationale Kommunikationswege aufgebaut, Sammelorganisationen wie die European Digital Rights Initiative in Brüssel ausgebaut und Stiftungen angezapft, um Aktivisten nicht nur zum Erfahrungsaustausch zusammenbringen, sondern auch für koordinierte Kampagnen.
Nun lautet die Frage: Wollen Europas Bürger ihr politisches Potenzial auf die Netzpolitik und den Kampf um einzelne Bürgerrechte beschränken? Die Antwort lautet: Sie sollten es nicht, und sie dürfen es nicht.
Grenzen unerwünscht
So wichtig Themen wie Acta, Netzsperren und die Vorratsdatenspeicherung sind: Die finanzpolitische Verfassung Europas wird das Leben der Bürger in den kommenden Jahren tiefgreifender beeinflussen als jede Einzelmaßnahme beim Datenschutz. Entscheidend ist deshalb, ob die digitale Bürgerrechtsbewegung auch auf anderen Feldern einen Weg für grenzüberschreitende Diskurse bereiten kann. Die Chancen dafür stehen gut.
Während der Aufklärung bildeten sich die ersten Keimzellen einer engagierten Öffentlichkeit in den Salons bei Diskussionen über Kunstwerke und Literatur. Aber das war dem räsonierenden Publikum bald nicht mehr genug. Die Bürger wandten sich neuen Themen zu und maßen von da an auch die Politik an ihrem Urteil. Die politische Sprengkraft solcher Debatten rührt heute wie damals daraus, dass sie sich weder auf Themen noch durch Staatsgrenzen beschränken lassen.
Gewiss, im Moment wird der europäische Streit um das Netz vor allem von einer Gruppe gut gebildeter, relativ wohlhabender und medienkompetenter Leute ausgetragen. Doch die Zirkel der Aufklärung – für viele das Urbild einer politisch wirksamen Öffentlichkeit – bestand noch aus einem viel exklusiverem Publikum als die der heutigen Netzaktivisten. Jedenfalls gibt es keinen vernünftigen Grund, warum sie sich freiwillig an wenigen Themen festbeißen sollten, wenn sie doch so viel mehr erreichen können.
Bis zur nächsten Europawahl sind noch zwei Jahre Zeit. Darauf zu vertrauen, dass Kanzlerin Angela Merkel oder einer ihrer Konkurrenten bis dahin von sich aus die Initiative ergreift, um Europas Bürger künftig mehr Einfluss im politischen Prozess zu geben, wäre bestenfalls naiv. Allgemeine Appelle gegen die Hinterzimmerpolitik allein nützen jedenfalls nichts. Die Bürger müssen das Heft schon selbst in die Hand nehmen. Die Anti-Acta-Aktivisten haben vorgemacht, wie das in Europa heute gehen kann.
Was ist Ihre Meinung?
Kommentare einblendenDiskutieren Sie mit.