Wenn es ein Schlagwort gibt, das zurzeit die unterschiedlichsten Gruppen für sich zu reklamieren suchen, dann ist es Transparenz. Indem die Piratenpartei es zum Leitbegriff ihres Programms erhebt, will sie sich der Einordnung ins klassische Rechts-Links-Schema entziehen. Und wirklich klingt die Forderung „Mehr Transparenz!“ so neutral, dass die Piraten sich sofort den Vorwurf der Beliebigkeit eingehandelt haben.
Das Missverständnis dieser Kritik liegt freilich darin, dass das Ziel einer umfassend offenen Gesellschaft eben nicht wertfrei ist, sondern eher mehrdeutig. So können ja sowohl politische Entscheidungen transparent gemacht werden als auch Details der Lebensführung von Einzelnen, Vorlieben, Kontakte, Schwächen, Krankheiten und allerlei andere Intimitäten. Während ersteres auf den ersten Blick als Gebot der Demokratie erscheint, gilt letzteres Datenschützern – zumindest in Deutschland – als Vorstufe einer totalen Überwachung.
Höchste Zeit also, Klarheit zu schaffen über erwünschte und unerwünschte Formen gesellschaftlicher Sichtbarkeit. Es ist ein Verdienst des Karlsruher Philosophen Byung-Chul Han mit seinem Traktat gegen die Transparenzgesellschaft nun eine Polemik vorzulegen, die sich so offensichtlich gegen den Zeitgeist wendet, dass er sich des ebenso wütenden wie klärenden Widerspruchs sicher sein kann.
„Der Transparenzzwang stabilisiert das vorhandene System sehr effektiv“, formuliert Han seine Grundannahme. Die umfassende Durchleuchtung von Dingen und Menschen sei ein ökonomischer Imperativ, um sie für die kapitalistische Wirtschaftsweise verfügbar zu machen. Und in der Tat ist ja spätestens seit dem Facebook-Börsengang für jeden am Aktienkurs ablesbar, wie kostbar private Daten für ein Unternehmen sein können. Doch Han bezieht seine Aussagen ausdrücklich auch auf die Politik – und scheut sich nicht, drastisch zu werden: „Dieser systemische Zwang macht die Transparenzgesellschaft zu einer gleichgeschalteten Gesellschaft. Darin besteht ihr totalitärer Zug.“
Natürlich Carl Schmitt
Wie ein Systemtheoretiker alter Schule argumentiert Han, dass alles, was sich in einem System umfassend darstellen lasse, schon Teil von ihm sei. Damit aber machten sich die Jünger der Transparenz blind gegenüber allem, was sich außerhalb des herrschenden politisch-ökonomischen Systems befinde – und entledigten sich so der „radikalen Negativität“, die erst eine Revolution ermögliche.
Dem setzt Han ein Lob des Geheimnisses entgegen. Nur wer nicht sofort alle seine Absichten auf den Tisch lege, könne strategisch und damit politisch handeln. Han ignoriert nicht, dass das Nicht-Wissen der Bürger auch als Machtmittel missbraucht werden kann. Dennoch beschreibt er die Alternative – die Abschaffung von Geheimnissen in der Politik – als Schritt zum Aufbau eines „aperspektivischen“ Panoptikums, in der potenziell jeder jeden kontrolliere. Gegenseitige Transparenz könne „allein durch permanente Überwachung erreicht werden, die eine immer exzessivere Form annimmt“. Schließlich verdächtige „der Imperativ der Transparenz“ alles, was sich nicht der Sichtbarkeit unterwirft. „Darin besteht ihre Gewalt.“
Als Weg in die Freiheit schlägt Han die Rückkehr zu einer Kultur des Vertrauens vor. Vertrauen setze ja sowohl eine positive Beziehung als auch ein gewisses Nicht-Wissen über den anderen, den Fremden, das Unverstandene voraus. Ohne Geheimnisse entfalle also der Grund für jedes Vertrauen. Und spätestens hier wird klar, dass es dem katholisch vorgebildeten Philosophen im Grunde gar nicht um den Aufstieg der Transparenz geht, sondern um den Verlust der Transzendenz.
Zwischen seinen Zeilen lugt jedenfalls immer wieder der Gedanke hervor, der Einzelne führe ohne letzte Kenntnis der Abläufe der Welt ein besseres Leben als mit diesem Wissen. Han nennt das auch: sich in eine Erzählung einbinden wie ein Pilger auf seinem Weg. Da den Jüngern der allseitigen Offenheit ein solches Narrativ fehle, könnten sie nicht mehr sein als orientierungslose Touristen auf dem Basar der politischen Meinungen.
Es ist kein Zufall, dass Han den katholischen Kulturpessimisten, Demokratiegegner und Technikfeind Carl Schmitt bemüht, um das „Arcanum der Politik“ zu verteidigen. Dabei verwechselt er jedoch Ursache und Wirkung: Nicht die Hoffnung auf mehr Transparenz hat die Demokratie zur Technokratie gemacht, sondern die Weigerung selbst Progressiver, die Folgen der Informationstechnik auf den politischen Prozess zu bedenken. Darauf kann man natürlich mit einem Plädoyer für die Rückkehr der Politik in die Hinterzimmer reagieren. Eine freiere Gesellschaft lässt sich so freilich nicht schaffen.
TransparenzgesellschaftByung-Chul Han Matthes&Seitz 2012, 96 S., 10
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