Es ist der 5. Dezember 1996, als zum ersten Mal ein Richter über Julian Assange urteilt. Der junge Hacker hat sich zuvor vergeblich mit seinem Anliegen an das australische Verfassungsgericht gewandt. Und so spricht ihn nun ein Landgericht in Melbourne schuldig des Einbruchs in elektronische Systeme in 25 Fällen, unter anderem bei Telefonfirmen und der Australischen Nationaluniversität. Da sich Assange nie bereichert hat und sich im Prozess schuldig bekennt, fällt die Strafe mit 2.100 australischen Dollar milde aus. Gleichwohl erhebt sich Assange und gibt in gesetzten Worten zu Protokoll, dass er den Richterspruch für ein „grobes Fehlurteil“ hält. Zehn Jahre später wird er in einem Blogeintrag schreiben: „Wahre Überzeugung formt sich
ich, wenn du zur Anklagebank geführt und in der dritten Person angesprochen wirst. Es ist wahre Überzeugung, wenn eine entfernte Stimme tönt: ‚Der Gefangene möge sich erheben‘ – und niemand außer dir im Raum steht auf.“Gut möglich, dass der Wikileaks-Chef mit dieser Haltung auch am 5. Dezember vor den britischen Supreme Court treten wird. Exakt 15 Jahre nach dem ersten Urteil gegen ihn, sollen jedenfalls erneut Richter über seine Zukunft entscheiden. Diesmal darüber, ob sie die letzte Revision gegen seine Auslieferung zur Verhandlung annehmen – oder ob Assange innerhalb weniger Tage nach Schweden gebracht wird, wo ihn eine Anklage wegen Vergewaltigung erwartet.Da die Annahme seines Gesuchs beim höchsten Gericht keineswegs sicher ist, will Assange an diesem Donnerstag auf jeden Fall noch den neuen elektronischen Briefkasten für seine Whistleblower-Plattform vorstellen. Seit September 2010 schon kann Wikileaks keine Dokumente mehr über das Internet annehmen. Eine Gruppe von Aussteigern um Daniel Domscheit-Berg hatte bei ihrem Weggang das Einreichsystem mitgenommen. Das neue System von Assange soll nun ohnehin technisch wesentlich ausgereifter sein als das alte und sogar ohne die inzwischen von Assange scharf kritisierte SSL-Verschlüsselungstechnik auskommen.Selbst Assanges ärgste Feinde sprechen ihm eine Fähigkeit nicht ab – die Fähigkeit, strategisch zu denken. Umso erstaunlicher erschien Beobachtern außerhalb seines Jüngerkreises zuletzt, warum der Chef-Leaker sich derart vehement gegen seine Auslieferung wehrte. Einige Zeit nach dem Bekanntwerden der Vergewaltigungsvorwürfe hatte er sich immerhin freiwillig den Behörden gestellt. Doch seither hat der 40 Jahre alte Australier Unmengen an Zeit, Energie und Geld in seinen Kampf gegen die Auslieferung investiert – ohne auch nur den kleinsten juristischen Erfolg. Inzwischen haben die Auseinandersetzungen so viel gekostet, dass für das eigentliche Verfahren in Schweden kaum mehr Geld übrig zu sein scheint.Bis hinauf zum britischen High Court haben Richter aller Instanzen die Anträge des Transparenz-Aktivisten abgelehnt. Der Supreme Court ist nun Assanges letzte Chance, seine Auslieferung durch ein britisches Gericht stoppen zu lassen. Sollten die Richter kein herausragendes „öffentliches Interesse“ in seinem Fall erkennen und ihn deshalb zurückweisen, bliebe dem Wikileaks-Gründer nur noch, vor die Europäischen Gerichte zu ziehen und zu behaupten, er fürchte in Schwedens Gefängnissen Folter oder Misshandlungen.Europäischer Haftbefehl bietet SchutzWorin aber liegt der Nutzen, das Verfahren in Schweden derart zu verzögern? Anders gefragt: Sind die Gefahren für ihn und Wikileaks wirklich derart groß, wie Assange offenbar befürchtet?Die immer wieder vorgebrachte Sorge, dass Assange von Schweden aus in die USA gebracht werden könnte, erscheint jedenfalls bei genauerem Hinsehen als kaum begründet. Zwar gibt es zwischen Schweden und den USA ein Auslieferungsabkommen. Doch für eine Auslieferung müsste erst einmal eine Klage in den USA erhoben werden, und zwar wegen eines Verbrechens, auf das auch in Schweden mindestens ein Jahr Gefängnis steht. So eine Klage gibt es nicht, auch wenn die US-Regierung wegen der Wikileaks-Veröffentlichung der Botschaftsdepeschen schwer verärgert ist.Zudem bietet paradoxerweise der Europäische Haftbefehl, gegen den Assange derzeit in Großbritannien so vehement vorgeht, einen weiteren Schutzmechanismus – festgelegt im Artikel 28 des Rahmenbeschlusses über den Europäischen Haftbefehl. Unter dem Strich bedeutet die Klausel: Selbst wenn Schweden Assange ausliefern wollte, müssten dazu auch noch die Briten ihre Zustimmung geben.Bestimmt treibt den Chef-Nerd die Sorge, dass Wikileaks viel von seiner ohnehin schon reduzierten Arbeitsfähigkeit verlieren dürfte, wenn er in einem schwedischen Gefängnis sitzt – sei es nun mit funktionierendem Web-Postkasten oder ohne. Der wichtigere Grund dürfte jedoch darin liegen, dass Assange ein Muster wiederholt: Ein großer Teil seiner Weltsicht hat sich in der Auseinandersetzung mit Gerichten und Behörden gebildet, und er kämpft hier wohl auch aus Prinzip.Mehr noch als sein Hacker-Prozess hat Assange etwa der Jahre dauernde Sorgerechtsstreit um seinen 1989 geborenen Sohn geprägt. Als die Ämter sich damals weigern, ihm trotz seiner Furcht um den Jungen das alleinige Sorgerecht zu übertragen, gründet er mit seiner Mutter eine „Initiative für den Kindesschutz“. Sein Kampf dauert zehn Jahre, führt ihn in insgesamt 30 Anhörungen und über die Gänge von zahllosen Ämtern. Dass er 1999 endlich geregelten Umgang mit seinem Sohn bekommt, hat er seiner Beharrlichkeit zu verdanken – und den Leaks von Sozialarbeitern, die ihm Behördeninterna zuspielen. Es ist der Anfang von Assanges Werdegang als bekanntester Enthüller der Welt.