Um es gleich zu sagen: Die nun veröffentlichten „Afghanistan-Protokolle“ werden nicht so hohe Wellen schlagen wie einst die Pentagon-Papiere, die der US-Militäranalyst Daniel Ellsberg 1971 mehreren Zeitungen zuspielte und die eine breite Öffentlichkeit gegen den Vietnam-Krieg aufbrachten. Sie müssen es auch gar nicht.
Wenn die Internet-Aktivisten der Enthüller-Plattform wikileaks.org von ihrer Arbeit sprechen, führen sie Ellsberg gerne als Vorbild an. Ihr Sprecher Julian Assange sagt gar, er erwarte, dass die Öffentlichkeit heute ebenso reagiere wie vor fast 40 Jahren. Dafür enthalten die Dateien, die Wikileaks im Medienverbund mit Spiegel, Guardian und New York Times veröffentlichte allerdings zu wenig Überraschendes; seit langem schon neigt sich die Wahrnehmung des Afghanistan-Krieges durch die Bürger dem Bild zu, das die Protokolle zeichnen.
Der Vergleich mit den Pentagon-Papieren ist dennoch aufschlussreich. Anders als früher können heute selbst Laien große Datensätze per Computer analysieren. Das politische Gewicht von geheimen Unterlagen hängt daher nicht mehr allein von ihrem Neuigkeitswert ab, ihr Dokumentationswert ist ebenso entscheidend. Damit ist das Potenzial einer Veröffentlichung gemeint, Aussagen glaubhaft zu machen, die für sich vielleicht nicht weltbewegend erscheinen, aber in ihrer Gesamtheit belegen, was vorher nur als Meinung gelten durfte. Und wenn weder Weißes Haus noch Kanzleramt das stete Tröpfeln von Belegen stoppen können, mag das politisch nachhaltiger wirken als jeder noch so heftige Einschlag einer einzelnen Exklusivnachricht.
Auf Redaktionen kein Verlass
Die englischsprachigen Medienpartner von Wikileaks haben diesen Zusammenhang besonders gut verstanden. Während Briten und Amerikaner den Lesern auf ihren Webseiten vom ersten Tag an Werkzeuge zur eigenen Analyse anboten, versuchten die Spiegel-Redakteure ihre Recherchen als konventionelle Enthüllungsgeschichte zu verkaufen – nur um dann zugeben zu müssen, dass sie in dem Material keine rauchende Bundeswehr-Kanone gefunden haben, deren Opfer alleine schon den Afghanistan-Krieg als das erweisen, was er im Ganzen ist: ein Skandal.
Dieses Versäumnis gibt auch einen Hinweis darauf, warum Wikileaks für potenzielle Informanten attraktiver erscheint als die meisten konventionellen Medien. Wer eine Datei auf der Aktivisten-Seite veröffentlicht, bleibt unabhängig von der Interpretation und den Ressourcen einzelner Redaktionen. Zum anderen bietet Wikileaks wie kaum ein herkömmliches Medium die Chance, weltweite Resonanz zu erzeugen. Die Afghanistan-Protokolle jedenfalls hätten ohne Wikileaks wohl keine derartige Erregung ausgelöst, keinesfalls aber wären sie umfassend analysiert worden wie es in den nächsten Wochen zweifellos geschehen wird.
Die Macher von Wikileaks haben in der Vergangenheit die Erfahrung gemacht, dass es kaum ausreicht, nur unaufbereitetes Originalmaterial zu veröffentlichen, wenn es politische Konsequenzen haben soll. Das gilt gerade für Geheimdokumente. Denn die Aura des Geheimen kann auch blenden. Sie gaukelt eine Wichtigkeit und Genauigkeit vor, die viele Dokumente nur in den Augen und gemäß den Interessen ihrer Verfasser haben. Die jetzt veröffentlichen Truppenberichte von Kämpfen in Afghanistan führen das eindrücklich vor Augen: Hier schreiben Kommandeure, die daran interessiert sind, nicht selbst wegen Kriegsverbrechen angeklagt zu werden. Wahrheitsgetreue Berichte von einem Massaker kann man von solchen Autoren kaum erwarten, sie unkommentiert als „Wahrheit“ zu veröffentlichen, wäre naiv.
Befreiung aus dem Dilemma
Es gibt also mindestens zwei Gründe, warum die Wikileaks-Aktivisten sich nun nicht mehr als Gegenöffentlichkeit, sondern als Partner der Mainstream-Medien definieren. Originaldokumente müssen in einen Kontext gestellt werden, um verstanden zu werden. Im Fall der Afghanistan-Dokumente war es aber vor allem der Wunsch nach dem maximalen publizistischen Effekt, der Julian Assange trotz seines Misstrauens gegenüber Journalisten dazu getrieben hat, das Material Monate im voraus Leitmedien aus den drei Ländern mit den größten Truppen-Kontingenten in Afghanistan vorzulegen.
Es ist ein Schritt, der das Internet-Projekt aus einem Dilemma befreien soll, in dem es seit seinem Start im Jahr 2007 steckt. Das Dilemma besteht darin, dass Journalisten stets auf der Jagd nach Exklusivnachrichten sind – was ihr Interesse an einem auf wikileaks.org allgemein zugänglichen Papier schmälert, selbst wenn es noch so relevant ist. Vorabsprachen sollen nun das Bedürfnis der Medien nach besonderen Schlagzeilen befriedigen, ohne dass die Originaldokumente anschließend in den Redaktionsregalen verstauben.
Mit diesem Schritt unterwirft sich Wikileaks zum einen professionellen Konventionen, zum anderen aber auch den Zwängen und systematischen Deformationen der etablierten Öffentlichkeit. Wahrscheinlich werden die Internet-Aktivisten diese Öffentlichkeit erweitern, sie ihrem unerreichbaren Ideal eines freien, allein der Wahrheit verpflichtenden Diskurses näher bringen. Das Ideal erfüllen werden sie freilich nicht.
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