Der Freitag: Wer hat es in der Hand, ob Kinder später in der Gesellschaft aufsteigen?
Klaus Hurrelmann: Der Einfluss der Eltern auf den Bildungserfolg von Kindern ist nach allen Untersuchungen weltweit ebenso groß wie der Einfluss aller anderen Faktoren zusammen, also etwa die Kita-Ausstattung, die Zahl der Lehrer in der Schule, Unterrichts-Methoden und Medienangebote. Es gibt eine unrühmliche Ausnahme: In Deutschland bestimmt das Elternhaus, die soziale Herkunft, viel stärker über Erfolg und Misserfolg in der Schule.
Eltern sind nicht nur für die Erziehung ihrer Kinder zuständig, sondern auch für deren Bildung?
Ja, und wenn wir das so aus-sprechen, machen wir etwas sehr Deutsches deutlich: Erziehung und Bildung werden hierzulande sprachlich und leider auch in der Praxis getrennt. Das gibt es in anderen Ländern so nicht. In der bundesdeutschen Tradition haben die Eltern die Aufgabe, Charakter, Persönlichkeit und Moralvor-stellungen des Kindes zu prägen, der Staat vermittelt in Schulen und Universität dann Wissen und Fertigkeiten.
Das war nach dem Krieg eine Antwort auf den totalitären Erziehungsanspruch der Nazis.
Zweifellos, und dieser Konsens wirkt bis heute fort: Der Staat soll nur darüber wachen, ob die Familie ihre Aufgabe erfüllt. Aber das reicht nicht, wie uns internationalen Vergleichsstudien immer wieder zeigen. Die Eltern spielen schon in den ersten Lebensjahren eine Schlüsselrolle für die Bildung der Kinder. Wenn sie Schwierigkeiten haben, dieser Rolle gerecht zu werden – zum Beispiel weil sie um ihre wirtschaftliche Existenz bangen, oder weil sie selbst schlechte Erfahrungen in der Schule gemacht haben –, dann haben die Kinder kaum noch eine Chance.
Die naheliegende Antwort ist: Dann schaffen wir möglichst viele Angebote jenseits des Elternhauses, mehr Kitas, Ganztagsschulen, eine gut finanzierte Jugendarbeit.
So lautet zumindest die klassische Antwort seit den sechziger und siebziger Jahren. Durch die moderne Bildungsforschung wissen wir aber, dass ein Ausbau von Bildungseinrichtungen allein nicht sehr effektiv ist. Lernlust, Leistungs-fähigkeit und soziale Einstellungen werden nämlich nach wie vor durch die Eltern geprägt – selbst wenn sich das Kind einen großen Teil des Tages in öffentlichen Einrichtungen aufhält.
Was folgt aus dieser Erkenntnis?
Wir dürfen nicht bloß die Kinder direkt fördern, sondern auch die Eltern.
Wie soll das aussehen?
Der erste Schritt wäre, wenn spätestens beim Eintritt in den Kindergarten mehrere Termine der Eltern mit den Erziehern vereinbart werden. Dabei sollte es nicht nur um das Kind selbst gehen, sondern auch darum, dass die Eltern Tipps und Beratung erhalten, wie sie ihr Kind am besten fördern. Etwas Ähnliches könnte sich dann beim Start in die Grundschule und später in der weiterführenden Schule ruhig noch einmal wiederholen. Der Vorteil wäre, dass es sich um Elterntrainings für alle handeln würde. Sie würden einfach dazugehören, und niemand wäre stigmatisiert, dass er jetzt einen Kurs besuchen muss, weil er angeblich schlecht erzieht.
Und der zweite Schritt?
Wenn wir wirklich weiterkommen wollen, müssen wir die Kompetenz von Eltern auch jenseits von Schule und Kita stärken. Interessanterweise ist in den vergangenen Jahren die Bereitschaft gewachsen, an Elterntrainings teilzunehmen. Die Leute suchen Antworten auf Fragen: Wie gehe ich mit kritischen Situationen um? Welche Ent-wicklungsphasen durchläuft mein Kind? Was mache ich, wenn es trotzig ist? Wenn es mich aggressiv angeht? Es gibt heute schon einige Anbieter von Elterntrainings, und die verdienen damit sogar gutes Geld. Es gibt also einen Bedarf. Wer aber genau hinsieht, stellt fest: Bisher melden sich vor allem Eltern zu den Kursen, die schon einen sehr hohen Sensibilitätsgrad haben, meist auch einen hohen Bildungsgrad. Und natürlich das Geld, um die Gebühren zu bezahlen. Wir erreichen bisher nur fünf bis zehn Prozent, dabei besteht die Aufgabe darin, allen Eltern Zugang zu solchen Kursen zu verschaffen.
Wie lässt sich der Rest erreichen?
Wenn das Grundgesetz den Eltern für die Entwicklung der Kinder die Schlüsselrolle zuweist, dann müssen wir konsequent bleiben, und sie so unterstützen, dass sie diese Funktion auch wahrnehmen können. Schließlich erfüllen sie eine öffentliche Aufgabe. Es reicht nicht, den Schutz der Verfassung für die Familie zu beschwören, wir müssen sie fördern.
Warum gibt es dagegen so viel Widerstand?
Die Konservativen sagen: Wir geben den Eltern ja schon Kindergeld, Elterngeld, bald auch Be-treuungsgeld, mit dem sie autonom agieren sollen. Und die Progressiven sagen: Man sollte das Geld besser ausgeben, um Angebote außerhalb der Familie zu finanzieren. So reden beide Lager am eigentlichen Problem vorbei. Wer Kindern bessere Aufstiegschancen eröffnen will, muss die Bildungskompetenz der Familien stärken.
Elternkurse für alle zu bezahlen, kostet aber viel.
Im Moment werden für das Betreuungsgeld große Summen freigemacht, die keinen Impuls für die Qualität der Kinderbetreuung durch die Eltern geben werden. Es wäre kein Problem, das Betreuungsgeld in Form von Bildungsgutscheinen auszuzahlen, die dann für Elternkurse eingelöst werden können. Oder man koppelt die Auszahlung des Betreuungs-geldes an die Bedingung, dass die Eltern ein Elterntraining besuchen. Im Sinne der Kinder wäre das in jedem Fall. Deutschland schmeißt in der Familienförderung mit den Milliarden um sich – und vergisst dabei, das Elternhaus in seiner Funktion als Bildungsstätte zu unterstützen.
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Praxisbeispiele: Was in Kursen für Erziehungsberechtigte geschieht
Klaus Hurrelmann, Jahrgang 1944, ist Senior Professor of Public Health and Education an der Hertie School of Governance in Berlin. Zuvor war der Soziologe unter anderem Mitglied im Leitungsteam der regelmäßig erscheinenden Shell Jugendstudie. Hurrelmann ist zusammen mit dem Elterntrainer Adolf Timm Autor des Buchs Kinder Bildung Zukunft. 3 Wege aus der Krise
In der Freitag-Serie „Herkunft: Bestimmt“ erscheinen Beiträge über die Gründe und Folgen der abnehmenden sozialen Mobilität in Deutschland – und was man dagegen tun kann. Zu den weiteren Beiträgen der Serie
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