Roman „Stern 111“ von Lutz Seiler: DDR-Transistor gewinnt Leipziger Buchpreis

Literatur Soziologe Steffen Mau über den soeben preisgekrönten Roman „Stern 111“ von Lutz Seiler, in dem er kunstvoll tote Winkel der Geschichte ausleuchtet
In der Oranienburger Straße in Berlin findet der Roman seinen zentralen Ort
In der Oranienburger Straße in Berlin findet der Roman seinen zentralen Ort

Foto: imago images/Rolf Zöllner

Spätherbst 1989, nach dem Mauerfall. Am Anfang des Buches fährt der verunsicherte Held des Buches, Carl Bischoff, die eigenen Eltern in den Westen. Der Nachwuchs als Fluchthelfer der Alten. Carl bleibt, so haben es die Eltern Inge und Walter geplant, als Nachhut zurück, bewacht die Wohnung und kümmert sich um das Familienauto, Marke Shiguli. Doch er reißt sich los, strandet in Berlin, wo er im Auto kampiert, Schwarztaxi fährt, um sich über Wasser zu halten. Künstler sein will er und weiß doch nicht wie. Tastend und voller Zweifel läuft er seinem Traum hinterher. Dann gerät er in eine Zwischenwelt voller Anarchie, Verweigerung, Mitmachutopien und lebenskünstlerischem Anspruch. Er kippt geradezu in die Umbruchszeit des letzten Jahrs der DDR hinein, wird Teil einer verschworenen Gemeinschaft.

Während Kruso, der preisgekrönte Vorgängerroman von Lutz Seiler, aus dem Delirium der taumelnden DDR seinen Nektar zieht, geht es nunmehr um das letzte Jahr der Anarchie, wie dieses Interregnum zwischen Nicht-mehr-alte-DDR und Noch-nicht-Bundesrepublik manchmal genannt wird. Wir treffen auf ein widerständiges Milieu, das den Fängen des vormundschaftlichen Staatssozialismus soeben entkommen ist, sich den neuen Zeiten aber nicht gleich fügen will. Es gilt, die gewonnenen Freiheiten gegen die Zudringlichkeiten kapitalistischer Landnahme zu verteidigen.

In einer atmosphärischen Dunkelkammer, der legendären „Assel“ in der Oranienburger Straße, findet der Roman seinen zentralen Ort. Insel, U-Boot, Bunker, Höhle, schwankendes Schiff – alles zugleich scheint dieses Lokal, selbsternanntes „Arbeitercafe“, zu sein. Stammesrituale werden gepflegt, das Kultische ist Tagesprogramm, es herrscht ein vegetatives Miteinander. Der Tresen ist immer großes Kino, denn es gibt ein Kommen und Gehen der Frauen vom Straßenstrich, von Sowjetsoldaten, Rebellen, Träumern und Bohemiens.

Wer die Ostberliner Szene der Wohnraumaneignung, der wie Pilze aus dem Boden spießenden Initiativen und des vitalen Nachtlebens zu Endzeiten der DDR und in den beginnenden 90er Jahren kennengelernt hat, wird schon allein am Wiedererkennen seine Freude haben. Hier wird man zum Originalschauplatzvoyeurismus geradezu eingeladen. Instandbesetzungen waren gang und gäbe, im Provisorium fand man seine Existenzform. Und dann all die Plätze, in denen sich Nachtvolk tummelte und kein Ende finden konnte. Das „Westphal“ oder die „Krähe“ waren Instanzen, in die man ging und lange blieb.

DDR-Transistorradio

Der Held ist gleichzeitig innen und außen, mit dabei und Sonderling. Als unbeteiligt Beteiligter wird er gleichsam adoptiert. Einen Auftritt haben auch Kruso und Edgar Bendler, die Helden aus Seilers ebenfalls preisgekröntem Vorgängerbuch. Stern 111 – Name eines legendären DDR-Transistor-Radios – ist unbedingt als Anschlussroman zu lesen. Der Sound des Buches ist ähnlich meditativ, ja soghaft. Auch sonst gibt es Parallelen: hier die „Esskas“ (SKs für Saisonkräfte) von Hiddensee, dort das „Rudel“, wie sich die Gruppe junger Suchender nennt, hier der „Klausner“ am Dornbusch, dort die „Assel“ im alten Scheunenviertel, hier eine geradezu entrückte Führerfigur, der Hirte, dort Kruso als charismatischer Spiritus Rector. Hirte wie Kruso befinden sich auf einer Mission, die auf die Gemeinschaft anziehend wirkt und sie formt.

Das Buch ist zugleich ein Künstlerroman, weil aus der Verweigerung, aus dem Abseitigen heraus erzählt wird, nicht aus dem beherzten Aufbruch in eine neue Zeit. Es dominiert das Zaudernde, Zögernde, Zurückweichende inmitten des großen Weltenumbaus. Die Assel als Krebstier widersetzt sich der Beschleunigung. Während das Räderwerk der Geschichte jeden Einzelnen mitzureißen droht, bleibt der Held einer, der den Schutz der Höhle sucht und braucht, um zu sich zu kommen. Er arbeitet als Maurer und Ausschank und fühlt sich zugleich als Poet. Die scheinbare Ferne von Arbeiterlichkeit und Künstlerexistenz trifft sich in der Hingabe an ein Produkt, im Bestreben, etwas gut zu machen. Projektionsfläche und Amour fou ist Effi, künstlerischer Gegenpol und bewunderte Geliebte, die sich entzieht und zurückkommt, Sicherheit verspricht und Irritation hinterlässt. Wirkliche Konstante und verlässliches Lebewesen ist hingegen die Großstadtziege Dodo, die zur „Assel“ gehört und derer sich der Held am Ende annimmt.

Spur der Eltern

Versetzt erzählt wird die Geschichte der Eltern. Während sich der Sohn im Krebsgang in seinen Partykeller hineinbewegt, stolpern die Eltern zwar mehr schlecht als recht, aber mit unbedingtem Willen ins Freie. Sie gehen weg, lassen zurück, nehmen Abstand. Kurzerhand werden sie zu Flüchtlingen im Westen. Schlingernde Bewegungen folgen, durch Notaufnahmelager, Flüchtlingswohnheime, Verwaltungsgänge und Einliegerwohnungen, wo sie als Fremde kommen und wieder gehen. Als an Türen klopfende Tagelöhner des Dienstleistungskapitalismus bieten sie ihre Arbeitskraft an. Virtuos sind die schon fast soziologisch zu nennenden Miniaturen westdeutscher Haushalte der oberen Mittelschicht, in denen die Mutter putzt. Hier gelingen Seiler in kurzen Passagen eindrucksvolle Porträts. Ihr Reiz besteht im verdichteten, ethnografischen Blick, dem Blick des Ostens, den Carls Mutter auf diese sich selbst genügenden Milieus der Bürgerlichkeit richtet. Und nun ist es die syrische Arztfamilie von Dr. Talib, die den Umsiedlern unbefangen entgegentritt und Hilfe bietet. Die Ostdeutschen finden bei ihnen temporäre Obhut. Die ganze Spur der Eltern durch die westdeutschen Lande wirkt erratisch und hat doch ein Ziel – das „Elternrätsel“, das hier den zukünftigen Leserinnen und Lesern nicht verraten werden soll.

Ob Lutz Seilers Stern 111 nun im Erwartungstrichter „Wenderoman“ punktgenau landet, sei dahingestellt, kunstvoll aber leuchtet er tote Winkel der Geschichte aus. Was in seinem Brennglas erscheint, ist eine Nahbetrachtung eines historischen Moments, in dem das Andere als Möglichkeit zum Greifen nahe schien und dann doch zerfiel. Der Kraft, die diese Verheißung freizusetzen vermag, gibt der Roman eine unverwechselbare Stimme.

Stern 111 Lutz Seiler Suhrkamp 2020, 528 S, 24 €

Steffen Mau (geb. 1968 in Rostock) lehrt Soziologie an der Humboldt-Universität. 2019 erschien von ihm Lütten Klein. Leben in der ostdeutschen Transformationsgesellschaft

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