Buch mit sieben Siegeln

1989 Martin Ziegler hat mit Enthusiasmus den Runden Tisch in der DDR moderiert. 20 Jahre später hat man ihn nun dafür geehrt

Wenn Revolution ist, ist Revolution. Und die nimmt keine Rücksicht auf Umzugstermine. Martin Ziegler hat das im Herbst 1989 erfahren. Mit seiner Ehefrau saß der damals 58-Jährige auf gepackten Kisten in Berlin-Mitte. Nach langem Suchen und Warten hatten sie ein Haus am Rande der noch geteilten Stadt gefunden. Etwas mit Garten, ein paar Tannen und unendlicher Ruhe.

Doch irgendwann zwischen Porzellanverpacken und Büchersortieren standen zwei Männer in der Tür. Manfred Stolpe, Zieglers Vorgänger im Amt des Leiters des Sekretariats des Bundes der Evangelischen Kirchen in der DDR. Und der Bürgerrechtler Wolfgang Ullmann. Sie baten um Rat. Es ging um etwas Neues, etwas Großes. Es ging um einen Runden Tisch für ein ganzes Land.

Am 7. Dezember 1989 waren erstmals alle Kameras auf Martin Ziegler gerichtet. Mit einem Katholiken und einem Methodisten sollte dem Protestanten gelingen, was in jenen stürmischen Tagen als schier unmöglich gilt: die DDR in sicheres Fahrwasser zu führen.

20 Jahre später sitzt Ziegler in seinem Haus in Schildow. Der 6.000-Seelen-Ort ist inzwischen nach „Mühlenbecker Land“ eingemeindet. Die Ruhe ist geblieben. Der 78-Jährige hat seine Hände ineinander gelegt. Ob er noch Kontakt hat zu den anderen von damals? „Nein“, sagt der Mann bestimmt, der in Ostpommern aufgewachsen ist und den das Kriegsende nach Stendal verschlug. „Sie sind ja alle von den Parteien aufgesogen worden.“ Nur Matthias Platzeck, dem Ministerpräsidenten Brandenburgs, läuft er manchmal über den Weg. Weil man in Brandenburg irgendwann jedem einmal über den Weg läuft. „Alles bei der Dir gelernt“, klopft der ihm für gewöhnlich jovial auf die Schulter. Und Ziegler lächelt dann in sich hinein. Er weiß, dass nichts flüchtiger ist als das gesprochene Wort.

Pluralistischer Anspruch

Dreieinhalb Monate lang – vom Dezember 1989 bis zum März 1990 – war Martin Ziegler so dicht an der Politik wie nie wieder danach. Eigentlich ist er ja selbst so etwas wie Politiker gewesen in jenen Tagen. Jemand, der Tag für Tag mit Gregor Gysi und Hans Modrow, mit Bärbel Bohley und Rainer Eppelmann zu tun hat. Seine Skepsis gegenüber der alten, neuen SED ist groß. „Aber das waren die einzigen, die parlamentarische Erfahrung hatten“, erinnert sich der Kirchenmann. Die neuen Gruppierungen, ob Demokratie Jetzt oder Neues Forum, sind kaum organisiert. „Das Selbstverständnis des Runden Tisches ist damals einstimmig verabschiedet worden“, sagt Ziegler. Er könnte noch die Namen nennen von jenen, die das heute nicht mehr wissen wollen.

Denn dieses Selbstverständnis hat auch etwas mit dem zu tun, was Ziegler bis in diese Tage beschäftigt. Der Mann, der als Superintendent viele Jahre im Merseburger Braunkohlenrevier gearbeitet hat, wollte vor allem eines: die DDR erneuern. Ein Land mit pluralistischem Anspruch sollte es sein, offen für jeden, mit Chancen für allen. Ein gerechtes Land wünschte er sich, in dem nicht zuvörderst der Markt und die Mark entscheiden. Auch deshalb war Kirchenmann Ziegler in jenen Tagen und Wochen entschieden dafür, dass sich die DDR eine neue Verfassung verordnet. „Dass dies nach dem Wahlergebnis vom 18. März, das ja als Votum für eine schnelle Einheit verstanden wurde, nicht mehr opportun war, ist klar“, sagt er im Rückblick. Aber er hätte sich schon gewünscht, dass es langsamer geht: „eine behutsame Annäherung beider deutscher Staaten mit einer schrittweisen Konföderation.“ Vereinigung statt Beitritt.

Die Mahnungen Martin Zieglers blieben Kassandrarufe. Zwar brachte es der Zentrale Runde Tisch in den drei Monaten seines Bestehens zu einer enormen Autorität in der DDR. Doch in Bonn nahm man das Gremium nicht zur Kenntnis. Am 12. März 1990 war der letzte Beratungstag, sechs Tage später wurde in der DDR gewählt. Ziegler beschloss damals, nicht in die aktive Politik zu wechseln. „Ich bin Pfarrer, ich hatte ja eine Aufgabe“, sagt Ziegler heute. Doch schon bald waren damals die Kirchen wieder leer. „Der Zulauf im Herbst 1989 fand nur statt, weil sie als Schutzraum gebraucht wurden.“

Nicht zornig, eher enttäuscht

20 Jahre später ist Martin Ziegler nicht zornig, eher enttäuscht. Er möchte vor allem, dass Brücken gebaut werden zwischen den Menschen, dass man redet über das, was die Leute 1989 angetrieben hat und was heute dieses Land ausmacht. Er findet, dass Platzecks Entscheidung für eine Koalition mit der Linkspartei richtig ist. Und er, der selber von der Stasi bespitzelt wurde, hat sich geärgert über Bischof Wolfgang Huber, der aus der Ferne alles besser wusste über die Verhältnisse in Brandenburg.

Am 9. November hat man Martin Ziegler dafür geehrt, dass er vor 20 Jahren seinen Umzug zurückstellte und die Herausforderung Runder Tisch annahm. Für seine Verdienste um die deutsche und europäische Verständigung. Ein wenig überrascht war er da schon – nach so langer Zeit. Sie haben ihn und die Mitmoderatoren von damals im Gebäude der Deutschen Bank neben den anderen Preisträger Hans-Dietrich Genscher gestellt. Veronica Ferres hat die Laudatio gehalten. Dann gab es Fotos und Grußworte und schließlich einen Preis. Es ist ein stilisiertes Buch aus Metall mit sieben Siegeln auf der Oberfläche.

Um ehrlich zu sein: Martin Ziegler weiß bis heute nicht, was das Werk bedeuten soll.

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