Uwe Holmer, ein schlanker, hochgewachsener Mann, lebt heute im mecklenburgischen Serrahn. Dort, wo sich Wind und die Weite des Meers vereinen, findet er Ruhe und Besinnung. Die Küste war immer schon Holmers Refugium, also ist er im Ruhestand mit seiner aus dem Vogtland stammenden Frau noch einmal umgezogen. Der Sohn eines Pfarrers wuchs in Schleswig-Holstein auf, bis die Familie nach dem Krieg in Wismar lebte. Eltern und Geschwister gingen 1953 zurück in den Westen, Uwe Holmer blieb und entschied sich für ein Theologiestudium in der noch jungen DDR. Pfarrer wurden gebraucht, das war ihm Antrieb genug. Als es im Studienprogramm auch das Fach Marxismus/Leninismus gab und der Satz fiel, mit dem Erreichen des Kommunismus werde die Kirche ganz von allein sterben, sagte sich der Student, dass er den kirchlichen Raum nutzen müsse, auf dass die Botschaft des Evangeliums weitergetragen werde.
„Das war oft kräftezehrend, aber auch jedes Mal ein kleiner Erfolg“, erinnert sich Holmer an die ersten Jahre im Pfarramt, als er Landpastor im Kreis Ludwigslust in Mecklenburg war. Später leitete er die Bibelschule in Falkenberg und übernahm schließlich die Hoffnungstaler Anstalten im brandenburgischen Lobetal – ein Mikrokosmos, ein Dorf der Diakonie mit mehr als 1.200 Heimbewohnern und 550 Mitarbeitern. Alle Häuser des Dorfes gehören der Kirche. Und da es üblich ist, dort auch die Bürgermeisterei zu übernehmen, tritt Uwe Holmer in die Christlich-Demokratische Union ein. „Die CDU bot einen gewissen Schutz gegenüber der SED“, begründet er im Nachhinein seine Entscheidung. Er habe den Mitgliedern seiner Partei klar gesagt, dass er Wert lege auf das „C“ im Namen.
Kein Platz nirgends
Dann kommt der Herbst 1989, Wende und Umschwung empfindet Holmer wie eine Befreiung. Ihn hatten Perestroika, Glasnost und Gorbatschow von Anfang an überzeugt – er glaubte daran, dass ein Wandel zu mehr Dialog und Transparenz eines Tages auch in der DDR möglich sein könnte. Und er soll sich nicht getäuscht haben. Plötzlich ist ab Oktober 1989 nichts mehr, wie es war. Zehntausende auf der Straße, Erich Honecker tritt zurück, die Medien im Sog der Veränderung, neue Bewegungen melden sich zu Wort, die Mauer fällt, die abgewählten Politbüro-Mitglieder der SED müssen die Waldsiedlung Wandlitz bei Berlin verlassen, Stichtag ist der 1. Februar 1990.
Aber wohin? Besonders um die Honeckers ist es einsam geworden. Der einstige Partei- und Staatschef und die ehemalige Volksbildungsministerin sind geächtet und fühlen sich ihres Lebens nicht mehr sicher. Und die Herzen vieler Menschen in der DDR sind hart. Eine Mietwohnung in Berlin, wie sie Margot und Erich Honecker angeboten wird, erweist sich unter diesen Umständen als viel zu unsicher. Ein eigenes Grundstück? Das besitzen die beiden, die niemals mit einem solchen Absturz gerechnet haben, nirgendwo. Es gibt Furcht, Verunsicherung, Krankheit, Einsamkeit, aber keinen Platz mehr, wo sie sich aufhalten können in der DDR. So wird Uwe Holmer durch Gottfried Forck, zu diesem Zeitpunkt Bischof der Evangelischen Kirche in Berlin-Brandenburg, und den Rechtsanwalt Wolfgang Vogel gefragt, ob er denn die Honeckers in seiner Lobetaler Einrichtung aufnehmen könne.
„Und warum gerade wir?“, wird zunächst mit einer Frage aus Lobetal reagiert. Der Pfarrer steht vor keiner leichten Entscheidung. „Dass nun ausgerechnet der Häuptling unserer Gegner kommen will, das war schon überraschend“, erinnert er sich später. Es geht um einen Entschluss für den Menschen wie den Theologen Holmer. Proteste gegen ein Asyl in Lobetal sind absehbar, vielleicht sogar Krawalle und Übergriffe. Schon melden sich erste Kirchenmitglieder, die sich ein solches Refugium für die Honeckers auf keinen Fall vorstellen mögen. Zu groß sind persönliche Verletzungen aus Jahrzehnten der Bedrängnis. Da kommt Holmer die Idee, die er „Gottes Antwort auf meine Frage“ nennt. Er bringt das Ehepaar in seinem eigenen Haus unter. Als niemand ihn beherbergen will oder kann, wird Holmer Honeckers letzter Mann. Hans Modrow, in jenen Tagen DDR-Ministerpräsident, schreibt in seinen Memoiren: „Hatte die Kirche vorher der Opposition Schutz geboten, so entzog sie sich auch jetzt nicht der menschlichen Pflicht gegenüber Erich Honecker.“
In der aufgewühlten, kaum noch regierbaren DDR zieht Holmer neben aller Zustimmung auch Widerspruch und Unverständnis auf sich. Um so mehr fühlt sich der Pfarrer veranlasst, oft mit Erich Honecker zu reden, dessen Lebenswerk gerade zusammengebrochen ist, und der die Transparente vor den Toren von Lobetal nicht versteht, auf denen zu lesen ist: „Nie wieder Sozialismus!“ Holmer geht mit dem von seiner Krankheit Gezeichneten viel spazieren und erzählt über sein Leben, die seelsorgerische Arbeit und den Umgang mit den Behinderten, während Ehefrau Margot klaglos im Haus der Holmers die Treppe wischt. Honecker selbst, so der Pfarrer, habe sich die politischen Demütigungen jener Wochen nicht anmerken lassen, auch wenn ihn wohl am meisten getroffen habe, wie einstige Weggefährten über Nacht von ihm abfielen und die alleinige Verantwortung am unaufhaltsamen Niedergang der DDR beim früheren SED-Generalsekretär abluden.
Uwe Holmer selbst ist es, der Erich Honecker immer stärker schützen muss. Als eines Tages zwei Reporter einer westdeutschen Boulevardzeitung bei ihm sitzen, wollen sie wissen, wenn es dazu komme, ob dann Erich Honecker bei Tisch mit bete. „Ich pflege meine Gäste nicht beim Beten zu beobachten“, bescheidet der Pfarrer abweisend. Doch die Wahrheit ist beugsam, so lautet die Schlagzeile am nächsten Tag: Holmer hat gebetet – Honecker hat Amen gesagt.
Ins Militärlazarett
Der Theologe spricht mit dem gestürzten Staatsmann und gebürtigen Saarländer über die anstehende Wiedervereinigung Deutschlands, die sich im Februar 1990 abzeichnende Währungsunion und meint, dass 40 Jahre kein Zufall seien: In der biblischen Geschichte würden sie für eine Periode der Demütigung, der Säuberung und Läuterung stehen. Doch wenn Uwe Holmer über die Kirche und das Wort Gottes spricht, wird sein Gesprächspartner wortkarg bis still und erwidert allenfalls „Wenn Sie das so sehen...“
Hans Modrow schreibt über seine letzte Begegnung mit Erich Honecker, zu der es Mitte Februar 1990 im Haus des Pfarrer von Lobetal kommt: „Mir fiel das Reden schwer. Erich Honecker widersprach nicht meiner Bemerkung, ich hätte die Verfolgung durch die Justiz der DDR gegen ihn und andere weder ausgelöst noch unterstützt … Ich spürte den Blick der Gebrechlichen hinter der schwerer gewordenen Brille. Er wies Anschuldigungen von ,persönlichen Unregelmäßigkeiten‘ zurück. Für jede materielle Leistung, die er entgegen genommen habe, gebe es Zahlungsbelege, die Rechtsanwalt Vogel jederzeit vorlegen könne ...“
Natürlich kommt der Tag, an dem das Ehepaar Abschied nehmen muss. Bischof Forck drängt die Regierung Modrow, eine andere Unterkunft für die Honeckers zu besorgen. Der Versuch, in Gransee, im Norden Berlins, dafür ein Gästehaus des Ministerrates in Betracht zu ziehen, scheitert am Widerstand des Neuen Forums. Auf den Wagen, mit dem die Honeckers unter dem Schutz der Volkspolizei aus Lobetal gebracht werden, wartet kurz vor dem Ortseingang von Neuruppin eine Schleuse des Protests, es wird auf die Wagendächer gehämmert und an die Scheiben geschlagen, so dass der kleine Konvoi schließlich abdrehen muss.
Als allerletztes Refugium bleibt das sowjetische Militärlazarett in Beelitz, das Erich und Margot Honecker durch Vermittlung des sowjetischen Botschafters Wjatscheslaw Kotschemassow und mit ausdrücklicher Zustimmung von Michail Gorbatschow aufnimmt, bevor beide im März 1991 nach Moskau ausgeflogen werden.
Inzwischen lebt die Witwe Erich Honeckers seit fast 18 Jahren in Chile, und zuweilen erreicht eine Ansichtskarte aus Santiago das mecklenburgische Serrahn. Ironie der Geschichte: Die Grüße von Margot Honecker treffen in der Regel zu Weihnachten ein, in der Zeit christlicher Feiertage.
Gegen alle Widerstände nimmt Pfarrer Uwe Holmer Anfang 1990 Margot und Erich Honecker bei sich zu Hause im brandenburgischen Lobetal auf
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