Nein, am bleiernen Herbst lag es nicht, dass einige Teilnehmer unangenehme Kälteströme beklagten. Spätsommerlich warm schien die Sonne, als sich vergangenes Wochenende Historiker, Soziologen und Zeitzeugen zur Tagung "Das Phänomen RAF. Beiträge zu einer Historisierung" in die "Evangelische Akademie im hessischen Arnoldsheim" aufmachten. Die gefühlte Kälte hatte einen anderen Grund. Es war die tiefe Kluft zwischen Zeitzeugenschaft und wissenschaftlicher Analyse. Beide reklamierten Deutungshoheit: Historiker und Zeitzeugen. Mit Sätzen wie "Das war doch damals ganz anders. Ich war ja dabei", meldeten sich Letztere immer wieder zu Wort. Krampfhaft versuchten sie ihre persönliche Erinnerung an die Ereignisse einzubringen: Karl-Heinz Dellwo zum Beispiel, der Stockholmer Botschaftsterrorist. Aber auch alte Linke, wie Professor Seiffert, vor deren Terrorleben mit Ulrike Meinhof befreundet. Eine verständliche Reaktion. Der aber zu Recht von den anwesenden Wissenschaftlern mit Skepsis, mit Widerspruch begegnet wurde. Denn Erfahrungsberichte, Filme, Romane über die RAF gibt es genug. In linken Buchläden stehen sie in langen Regalreihen. Und auch auf Podien sind die RAF-ler oft als aussterbende Polit-Saurier zu bewundern. Die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit der RAF steckt dagegen in den Kinderschuhen: Obwohl sie als ein zentrales Phänomen der deutschen Geschichte angesehen wird, protestantisch, bieder, nationalistisch, antisemitisch, also sehr deutsch. Eigentlich genauso, wie Horst Mahler das heute behauptet.
Kein Wunder, dass im Taunus zentrale Mythen einer ganzen Generation bedenklich ins Wanken gerieten: beispielsweise die RAF nur als logische Folge der verhärteten politischen Fronten nach ´68 zu verstehen. In linken Kreisen ist diese Mär ein Evergreen. Jan Philipp Reemtsma, der Hamburger Sozialforscher, machte da nicht mit. Und sorgte mit dem Eröffnungsvortrag gleich für den ersten Kälteschock. Reemtsmas brillanter Vortrag zeigte die RAF als ein Selbstermächtigungsprojekt. Als ein pervertiertes Lebensmodell junger Menschen, die einen Kampf gegen die Komplexität der Moderne führten. "Entweder Mensch oder Schwein", hieß es am Ende, doch dann waren die Protagonisten auch schon tot. Reemtsmas Rede bot eine psychodynamische Strukturanalyse des Terrorismus, übertragbar auch auf seine zeitgenössischen Formen. Kalt verzichtete er auf jede Einfühlung in die Psyche der Täter. Ein Text ohne Mitleid und Verständnis. Die RAF-ler waren an so was bis jetzt nur von den Konservativen gewöhnt. Die Aktualität von Reemtsmas Argumenten war offenkundig in einer Zeit, in der Massenmord, ob in Israel oder Russland, mit Hinweis auf die schlimme Situation neuerdings auch wieder "verstanden" wird. Und in einer Zeit, in der die Arbeitslosenquote und die Wahl einer Nazi-Partei in einem Zusammenhang stehen.
Der zweite Kälteschauer ließ nicht lange warten. Viele Linke hatten die Mittel der RAF verabscheut, bei den Zielen waren sie sich mit ihrer Ablehnung damals aber nicht so sicher. Für die Pariser Journalistin Dorothea Hauser waren die nicht besser. Kein Wort von Befreiung stehe in den Schriften, wenn von den Amerikanern die Rede war. Stattdessen nur kleinbürgerlicher Antiamerikanismus, der in seiner Schärfe und Rhetorik schlimmste Assoziationen wachruft. Eine genaue Analyse der Bilder und Topoi von damals steht aber noch aus. Beispiele für die ideologische Verirrung gab es dagegen genug. Deutschland eine amerikanische Kolonie? Die RAF glaubte daran. Genauso wie an ihre Mission, die armen Deutschen vom Joch der amerikanischen Besatzung zu befreien. In RAF-Texten, so Hauser, gebe es keine jüdischen Opfer. Warum auch: man hatte deutsche. Blickt man auf Passagen in den RAF-Texten, zum Beispiel in die "Stammheimer-Erklärung", muss man unwillkürlich an die Dolchstoßlegende denken.
Wie waren solche Positionen möglich? Warum kündigte die Restlinke nicht ihre Solidarität? Diese und andere Fragen warten auf Klärung. Besonders bizarr erscheint die Wandlung Ulrike Meinhofs, die, wie Jürgen Seiffert unermüdlich betonte, vor der RAF viel differenzierter und moralischer dachte, in ihren konkret-Texten kann man das heute noch nachlesen.
Die Tagung war ein erster Schritt auf dem Weg zu einer Historisierung der RAF. Am Ende hatten auch die Zeitzeugen eine Menge gelernt. Denn irgendwie muss der Zeitgeist auch ihnen das Hirn vernebelt haben. Auch Dellwo zuckte unter den genannten Passagen merklich zusammen. Das Hamburger Sozialforschungsinstitut stellt die Vorträge in Buchform zusammen. Zu kaufen sind sie hoffentlich bald auch in linken Buchläden.
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