Vor kurzem verkündete Klaus Kleber im heute-Journal, das S.A.R.S künftig Sars heiße. Der Einfachheit halber. Sars, Sars, Sars. Ich beschloss, Klebers Aussprachevorschlag zu folgen. Denn obwohl die Sars Epidemie sich im fernen China abspielt, hatte Sars in meinem Umfeld eine gewisse Bedeutung gewonnen. Man kann es so formulieren: ich spürte ein Sars - Bedürfnis. Die Szene der Hypochonder hatte jahrelang auf eine solche Bedrohung aus Fernost gewartet. All diejenigen, die sich über das Jahr hinweg von einer Grippe zur nächsten hangeln und deren Ansteckungswege die normale Schulmedizin vor unlösbare Probleme stellt: also diejenigen, die sich telefonisch oder über Dritte anstecken und die aus Vorsichtsmaßnahmen selbst erkrankte beste Freunde und Geliebte in ihrer Bettengruft vegetieren lassen, alle die hatten endlich eine wahre und existentielle Bedrohung gefunden. Zwar ist es noch nicht soweit, dass jedes Gespräch von sich aus auf das Sars Thema lossteuert, wie bei Mega-Katastrophen sonst üblich, eine einfache Aussprache bietet sich aber trotzdem an. S.A.R.S würde wahrlich jedes Gespräch zerreißen, unangenehme Störungen in der Sprachrhythmik verursachen und zu später Stunde manchen Hypochonder daran hindern, über seine Herzensangelegenheiten zu plaudern.
Für mich erlangte Sars erst über Umwege Bedeutung. Zwar stecke auch ich mich gerne übers Hörensagen mit allerlei Virusinfektionen an und verweigere grippekranken Personen kategorisch jeden Krankenbesuch, der mediale Sars-Hype stieß mich angesichts des Golfkriegs dann aber doch ein wenig ab. Eine klinische Verwechslung jedoch veränderte die Situation radikal: ich stand in meinem Freundeskreis unter Sars-Verdacht. Sars und ich. Für einen Tag waren wir unzertrennlich. Warum? Weil meine Freunde elendige Hypochonder sind! Ich hatte in Barcelona zwei Musiker aus Buenos Aires kennen gelernt und des öfteren mit ihnen abgehangen. Davon hatte ich am Telefon einem sehr ängstlichen Freund erzählt, der unter chronischen Halsschmerzen leidet und den ich noch nie gesund gesehen habe.
Zurück in Tegel hatte ich Husten. Ich fühlte mich schlecht. Richtig zerschlagen. Schuld war die trockene Flugzeugluft. Fliegen und Husten bekommen sind für mich dasselbe. Wie jeder normale Mensch, der krank am Flughafen steht, rief ich meine Freunde an. "Könnt ihr mich abholen?", fragte ich. "Mir geht es schlecht." Am anderen Ende der Leitung nur Schweigen. Rumgedruckse. Alle sprachen von Terminen, ein Wort, das ich in unseren Kreisen noch nie vernommen hatte. Niemand wollte mich abholen. Schlimmer noch: niemand wollte mit mir telefonieren. Doch ich ließ nicht locker und erfuhr die wahre Ursache für die abweisende Haltung. Mister Halsschmerzen hatte aus meinen argentinischen Popmusikern chinesische Freejazzer gemacht. Und eins plus eins zusammengezählt. Das war zuviel. Ich schrie: "Du Spinner, du elender, das waren Argentinier!" und fuhr mit dem Bus nach Hause. Einige Stunden später, die Reisetasche war ausgepackt, die Vorkehrungen für einen entspannten Fernsehabend getroffen, ertappte mich mein Bewusstsein plötzlich dabei, wie ich gekünstelt vor mich hin hüstelte. "Kchch ... Kchch ... Kchch". "Was tust du da?", fragte es mich. "Ich simuliere Husten, um herauszukriegen, ob er trocken ist oder nicht", antwortete ich, als wäre das die selbstverständlichste Sache der Welt.
Ich war in die Sars-Falle getappt. Besser gesagt, meine hypochondrischen Bekannten hatten mich in Sars hineingetrieben. Trockener Husten war das erste Sars-Symptom. Was war überhaupt trockener Husten? Ich hustete und hustete, konnte meinen Husten aber weder als sonderlich nass, noch als staubtrocken qualifizieren. Ich kaufte mir den neuen Spiegel und überflog panisch den Sars-Sonderteil. Darin stand zwar nicht in Lautschrift wie sich trockener Husten anhört, wohl aber stand in einem rot umrandeten Kästchen, dass schnell einsetzende Fieberschübe auf den trockenen Husten zu folgen hätten und dass mein Körper und Geist in den darauf folgenden Tagen von Sars besiegt werden würde. Ich legte mich mit meinem digitalen Fieberthermometer ergeben ins Bett und schaltete den Fernseher ein. Während ich mich durch die Sars-Brennpunkte zappte, maß ich meine Temperatur. Am nächsten Morgen war klar: ich hatte kein Sars. Dafür durchlebte ich eine Nacht lang die Highlights eines durchschnittlichen Hypochonders. Mein Gesicht war puterrot und kalter Schweiß rann von meiner Stirn. Waren meine argentinischen Popmusiker vielleicht Einbildung? War ich nicht doch mit chinesischen Avantgardeelektronikern durch Barcelona gezogen? War ich gar nicht in Barcelona, sondern ...? Ich fühlte mich, als wäre ich zu Fuß von Barcelona nach Hause gelaufen. Ich beschloss niemanden von dieser Nacht zu erzählen.
Für mich war das Sars-Kapitel damit beendet. Für meine Freunde nicht. Robert, der Mann, der nie gesund ist, hatte aus seinem Fenster beobachtet, wie der Asia-Gemüsehändler von gegenüber mit einem Mundschutz seinen Laden betrat.
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