Prototypen der Toleranz

Mythen und Rezepte Der "Weiter so"-Pragmatismus der Briten bröckelt, nicht aber das Bekenntnis zur Multikultur. Eindrücke aus London

Wenn Politiker nationale Mythen bemühen, ist das verdächtig. Unermüdlich wurde nach den Londoner Anschlägen der britische Durchhaltewille beschworen: bis ins 16. Jahrhundert reichten die historischen Beispiele für britische Tapferkeit. Auch die Königin erinnerte im Beisein der Opfer an den "Blitz" und verkündete ein pluralistisch-kapitalistisches "Weiter so".

So viel politfunktionaler Mystizismus zeigte seine Wirkung. In Radio und Fernsehen wiederholten Hunderte von Londonern ihre Version der von oben ausgegebenen "Weiter so"-Parole in die Mikrofone. Und die meisten Banker fuhren schon am nächsten Morgen demonstrativ zur Arbeit. Nur: Im Gegensatz zu Blair oder der Queen haben viele Londoner sowieso keine andere Wahl, als sich allmorgendlich in die U-Bahn zu stopfen. Knapp drei Millionen Menschen müssen bis neun Uhr früh im Stadtzentrum sein, ohne Metro würde vielleicht ein Zehntel davon den Arbeitsplatz vor der Mittagspause erreichen. Leider sind für existenzielle Grübeleien auf dem häuslichen Sofa die Lebenshaltungskosten zu hoch, und der Kapitalismus ist zu rau. Es erscheint daher mehr als fraglich, ob die Pendlermillionen wirklich den Heldentod für die königlich-britischen Werte sterben möchten. Ich jedenfalls würde zumindest um ein wenig Bedenkzeit bitten.

Vieles spricht dafür, dass der trotzige "Weiter so"-Pragmatismus zu jenen Politiker-Floskeln gehört, die immer dann auftauchen, wenn die Politik sonst keine Antworten hat. Immerhin scheinen die westlichen Antiterror-Maßnahmen nicht sehr erfolgreich zu sein: keinen Schimmer hatte der britische Geheimdienst von den Attentatsplänen. Erst wenige Tage vor den Anschlägen stufte man die Terrorismus-Gefahrenstufe herunter. Und der Irakkrieg, der unter anderem auch der Terrorismusvorbeugung dienen sollte, zeitigt den gegenteiligen Effekt: viele Kriegsgegner haben das vorausgesehen.

Insofern war es kein Wunder, dass die britisch-nationale Einheitsfront des "Weiter so" schon einige Tage nach dem Attentat zu bröckeln begann. Charles Kennedy, Oppositions-Führer der Liberal-Demokraten, die von Beginn an gegen Blairs Kriegskurs opponierten, schob die Anschläge auch der Irak-Politik des Premierministers in die Schuhe. Alte Linke wie George Galloway, der mit seiner radikalen Kriegsopposition einen Wahlkreis im muslimisch geprägten East-London ergatterte, bliesen fast ein wenig besserwisserisch ins gleiche Horn.

Und während - was Wunder - die Neokonservativen aller Länder jetzt anfangen, den Terrorismus herunterzuspielen (weitermachen, weitermachen!), damit ihr Scheitern auf dem Gebiet seiner Bekämpfung nicht ganz so offensichtlich wird, kündet die mediale Omnipräsenz der Anschläge von etwas ganz anderem: nämlich, dass sich im Leben vieler Londoner sehr wohl etwas verändert hat. So erfüllt der Radiosender BBC-London im Moment die Funktion einer öffentlichen Therapieanstalt: wo früher allmorgendlich Hörer über das "Komasaufen" der englischen Jugend diskutierten, tauscht man jetzt Gedanken, Gefühle und Ängste über den Alltag nach den Terroranschlägen aus. Fahrradgeschäfte machen Rekordumsätze, obwohl in London niemand gefährlicher als ein Fahrradfahrer lebt - auch in Zeiten des Terrorismus.

Immer und überall, im Bus oder Cafe, sind die Anschläge das Thema Nummer eins: man tauscht sich aus, zum Beispiel darüber, wie man wieder einmal paranoiderweise die tube verlassen habe, weil der berucksackte Nebenmann nervös von einem Fuß auf den anderen hopste - was übrigens, nach einem Merkblatt der israelischen Polizei, ein untrügliches Kennzeichen für einen Selbstmordattentäter ist.

Das "Weiter so" bröckelt, erstaunlicherweise überlebte aber bislang ein anderer Konsens: die emphatische Bejahung des Multikulturalismus. Während in Deutschland bayerische Lokalpolitiker wie Günther Beckstein den "Cultural-Clash" als Erklärungsansatz bemühen, gab es in London keine Wortmeldung, die nicht die diversity und den Multikulturalismus Londons verteidigte. Nirgendwo findet sich in Europa eine Stadt, die sich so stolz, offen und unproblematisch zu ihrer multiethnischen Realität bekennt wie London: sie ist zu einem Markenzeichen geworden. Jeder Zeitungskommentator wies in seiner Freude über die erfolgreiche Olympiabewerbung darauf hin, dass die kosmopolitische Karte den Ausschlag für die Entscheidung des IOC gegeben hat. Während Paris sich ganz "Old Europe"-mäßig als Stadt der Liebe und der historischen Bauwerke präsentierte, zeigte sich London als die Stadt, in der die Welt sowieso schon zuhause ist.

Vor einigen Monaten brachte der Guardian eine große Sonderbeilage zur multikulturellen Wirklichkeit Londons, die stolz reklamierte, dass die britische Hauptstadt New York als Schmelztiegel der Völker abgelöst habe: über zwei Millionen aus aller Welt Zugezogene leben hier. Man spricht in London in 300 verschiedenen Muttersprachen und glaubt an ebenso viele Götter. Und vor den Anschlägen waren 87 Prozent aller Londoner besonders auf die kulturelle Vielfalt ihrer Stadt stolz. Von Begriffen wie Einwohnerschwund und Überalterung hat man hier dementsprechend noch nichts gehört. Und die Westlondoner Pophoffnung M.I.A. verschmilzt so viele Musikstile ineinander, dass keine ethnohistorische Forschung sie mehr auseinander dividieren könnte.

Viele Kommentatoren der liberalen Zeitungen haben Sorge, dass diese positive Einstellung zur Multikulturalität durch die Anschläge Schaden genommen haben könnte. Allerdings gibt es dafür vorerst keine Anzeichen. Das liegt auch daran, dass sich die Selbstdefinition der Briten in den vergangenen Jahren dramatisch gewandelt hat. Während man in den sechziger Jahren die Einwanderung aus den ehemaligen Kolonien noch als Gefahr für das weiße England betrachtete, praktiziere man heute eine gefährliche Toleranzideologie, warnte Kenan Malik, der erste Multikulturalismuskritiker, der sich in der Times aus der Deckung wagte. Im gleichen Atemzug lobte der pakistanisch stämmige Autor aber die befruchtende Vielfalt der Stadt. Von deutsch-provinzieller Multikulturalismuskritik ist man glücklicherweise selbst in konservativen Zirkeln noch weit entfernt. Dafür sorgen auch Antidiskriminierungs- und Gleichstellungsgesetze, die in Deutschland, dem Land des Bürokratismus, ausgerechnet wegen "Bürokratismus" auf Ablehnung stoßen. Als sich der Londoner Polizeichef Ian Blair nach den Anschlägen Radiohörer-Fragen stellte, bürstete er die Vorbehalte gegen die Neueinstellung von 3.000 Polizisten muslimischer Herkunft unwirsch damit ab, dass die "Metropolitan-Police" die ethnische Pluralität der Stadt widerzuspiegeln habe. Dem wenig überzeugten Hörer riet er nach einigen Wortgefechten, in die Provinz zu umzuziehen.

Ken Livingston, ausgewiesener Irak-Kriegs-Gegner und Bürgermeister von London, hielt sich nach den Anschlägen glücklicherweise gar nicht lange damit auf, in der Irak-Kriegsfrage nachzukarten, (der Krieg wurde ja sowieso von der Mehrheit der Briten abgelehnt), sondern konzentrierte sich ganz auf die Gefahr einer möglichen rassistischen Renaissance. Kurzfristig benannte er das große alljährliche Antirassismusfestival Rise am 16. Juli in London United um und deutete die Anschläge als Angriff auf die Multikulturalität der Stadt. In der zurückliegenden Woche versammelte er religiöse Führer der verschiedenen Communities um sich: Juden, Muslime, Hindus und Christen. Zusammen beschwor man die Einigkeit in der Vielfalt.

Gerade der Bombenanschlag auf den roten Doppeldeckerbus, von denen rund 6.000 tagtäglich im Einsatz sind, gibt Livingston recht. Nirgendwo ist die kulturelle Vielfalt Londons greifbarer als in den strahlend roten Bussen: sie prägen das Stadtbild (innen und außen) so stark wie die gelben Taxis New Yorks. Während Margaret Thatcher in den achtziger Jahren noch höhnte, dass der öffentliche Nahverkehr etwas für gesellschaftliche Verlierer sei, ist es gerade Livingstons Verdienst, dass ganz London heute Bus fährt. In meinem Bus (Nummer 24) fahren alte jüdische Damen mit Bernsteinketten in Richtung Kaufhaus Harrods, schwarz vermummte Musliminnen mit Kindern schaukeln zum Hyde-Park, asiatisch stämmige Studenten bringt der Bus zur Universität und Rastafaris zum Wochenmarkt. In Camden-Town steigen dann noch Punks, Banker und Touristen dazu. Seit dem 7. Juli ist die Entspanntheit der Fahrgäste leider verflogen, vor allem dann, wenn arabisch-stämmige Mittzwanziger mit Taschen den Bus besteigen. Aber zu Beleidigungen oder rassistischen Ausfällen ist es in meinem Bus noch nicht gekommen.

Wenn es solche Ausfälle kaum gibt, so liegt das unter anderem daran, dass die öffentlichen Diskurse zumindest bis heute sensibel geführt werden. Besonders anrührend wurde zum Beispiel über das Schicksal einer jungen Muslimin berichtet: Shahara Islam. Seitenlange Berichte über die religiöse Britin mit dem symbolträchtigen Namen lieferte die Boulevard-Presse. Man machte sie zur Märtyrerin des Multikulturalismus.

Neben dieser Wohlfühlrhetorik mehren sich aber auch die Stimmen von Muslimen, die eine selbstkritischere Haltung der eigenen Community fordern. Denn ein Schock war es, dass die Attentäter aus britisch-muslimischen Mittelklasse-Verhältnissen stammten. Regelrechte Prototypen der "Toleranz-Identität" waren sie. Sie spielten Cricket, arbeiteten in Vaters Fish-and-Chips-Shop und besuchten die Moschee im Viertel. Hanif Kureishi oder Kick it like Beckham fallen einem dazu ein. Dann plötzlich - aus heiterem Himmel - jagten sie sich und über 50 unschuldige Londoner in die Luft. Im Observer kritisiert Tariq Panja den weltabgewandten Konservatismus vieler Prediger, die von der Lebenswelt der jungen britischen Muslime keinerlei Ahnung hätten und so eine ganze Generation religiöser Automaten heranziehen würden. Leben und Religion erscheint vielen ab dem Pubertätsalter nicht mehr vereinbar. Um dieser ambivalenten Lebenshaltung zu entfliehen, neigten gerade junge Studenten dazu, ihr Bedürfnis nach Eindeutigkeit in radikalen Islam-Versionen zu suchen. Tariq Panja fordert deshalb, wie viele andere muslimische Liberale, eine neue Imam-Generation, die in Englisch predigt und einen "neuen britischen Islam" erfindet.

Das ist sicher eine Notwendigkeit, denn mit linken Erklärungsansätzen stößt man bei diesen Attentätern an Grenzen. Sie sind weder ungebildet, noch unterprivilegiert, und eine berechtigte Kritik am Irak-Krieg oder der Politik Israels ist in England auch mit anderen Mitteln als terroristischen möglich.


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