Alexis Tsipras hat oft gefordert, über den geeigneten Weg aus der europäischen Dauerkrise müsse politisch entschieden werden. Der griechische Premier wollte eine Debatte auf höchster Ebene, jenseits der Rechenexempel von Troika-Beamten oder Finanzministern. Europas Regierungschefs selbst sollten über die Fortsetzung der Austeritätspolitik beraten. In einem halsbrecherischen Manöver hat er seinen Amtskollegen nun diese Grundsatzdiskussion aufgezwungen.
Konfrontiert mit einem Referendum, bei dem am kommenden Sonntag je nach Lesart über die Kürzungspolitik oder die Euro-Mitgliedschaft befunden wird, müssen die politischen Spitzen der Eurozone Farbe bekennen. Sie müssen entscheiden, ob sie Griechenland im Euro und am Ende in der EU halten w
U halten wollen. Und sie müssen grundsätzlich beantworten, ob ihnen kurzfristige wirtschaftliche Interessen wichtiger sind als die Zukunft des vereinten Europas. Allerdings schwindet der Raum für dieses Räsonieren täglich. Tsipras’ jüngster Zug gilt bei seinen Kollegen als konfrontativer Akt, die Fronten sind zunehmend erstarrt. Der Grexit ist von der Drohung zu einer sehr realen Gefahr geworden.Dabei boten die vergangenen fünf Monate genug Zeit, um die fällige Debatte konstruktiv zu führen. Und tatsächlich stand Griechenland auf der Agenda zahlreicher Treffen europäischer Regierungschefs. Wenn es jedoch um die entscheidenden Fragen ging, schickten diese gern ihre Finanzminister vor, so auch beim vorerst letzten Sondergipfel am 22. Juni in Brüssel. Die Botschaft dahinter lautete: Wir können über diese oder jene Steuerreform verhandeln, nicht aber über den grundlegenden Kurs. Dieser Grundkonflikt konnte seit Amtsantritt der Syriza-Regierung in Athen Ende Januar nie überbrückt werden: Wo die griechische Seite Alternativen ins Spiel brachte, beharrten die Verhandlungspartner auf der Alternativlosigkeit ihres Programms – so sehr, dass sie sogar die Diskussion darüber zu vermeiden suchten.Hauptprotagonistin dieser technokratischen Haltung ist die Regierungschefin des neuen europäischen Hegemons: Angela Merkel. Zwar hat sich die Bundeskanzlerin zuletzt gegen die nicht ganz so klammheimlichen Grexit-Befürworter im eigenen Lager gestellt, aber eine genuin politische Debatte über das vereinte Europa scheut sie seit Jahren. Äußert sich Merkel einmal grundsätzlich zur Rolle und Bedeutung der EU, beschwört sie zumeist die Konkurrenz mit China oder Indien und mahnt gesteigerte Wettbewerbsfähigkeit an. Noch zwei Tage nach der Ankündigung des griechischen Referendums zog Merkel sich auf jene hierzulande oft beschworenen Regeln zurück, die in der Eurozone nun mal gelten müssten.Fetisch SchuldenbremseSo typisch dieses Argument für die Tradition des deutschen Ordo-Liberalismus ist, so wenig trägt es in diesem Fall. Das zeigt exemplarisch die für Athen so existenzielle Schuldenfrage: Ob die griechische Regierung ihre Verbindlichkeiten wie geplant abträgt, ob diese ans Wirtschaftswachstum gekoppelt oder gar teilweise erlassen werden – all das ist keine Angelegenheit von starren Regeln, sondern von politischen Vereinbarungen.Das demokratische Aushandeln von Kompromissen versuchten Merkel und Co. in den Krisenjahren zunehmend obsolet zu machen. Stattdessen setzten sie auf juristische Vorgaben wie die Schuldenbremse und den Fiskalpakt. Diese sollen eine alternative Wirtschaftspolitik schon im Ansatz verhindern: Eine keynesianische Krisenlösung etwa beruht darauf, in einer Rezession staatliche Investitionen zu steigern – öffentliche Verschuldung soll flexibel genutzt werden, statt sie pauschal zu deckeln.Placeholder infobox-1Mit noch größerer ideologischer Halsstarrigkeit begegneten Europas Neoliberale der neuen Athener Regierung. „Sie sehen zwar wie Politiker aus“, schrieb gerade treffend Jürgen Habermas über das europäische Spitzenpersonal, „lassen sich aber nur in ihrer ökonomischen Rolle als Gläubiger sprechen.“ Auf diese Weise gelang es ihnen zunehmend, die Debatte zu entpolitisieren, bis am Ende öffentlich nur noch über Mehrwertsteuersätze für die griechischen Inseln gestritten wurde.Tsipras und sein Kabinett hatten dem immer weniger entgegenzusetzen. Als Vertreter eines kleinen, wirtschaftlich darniederliegenden Landes sprach allein schon das Kräfteverhältnis in der Eurozone gegen sie. Zudem scheiterten sie bei der Suche nach Bündnispartnern: Frankreich und Italien zogen nicht mit, sei es aus mangelnder Courage, sei es aufgrund des ungeschickten Auftretens der Neuen. Es mangelte den unerfahrenen Politikern mitunter an diplomatischem Gespür, etwa als Finanzminister Yanis Varoufakis öffentlich die italienischen Schulden für nicht tragfähig erklärte.In jedem Fall sah sich Athen immer mehr an die Wand gedrängt. Dies gipfelte in der vergangenen Woche in einem Angebot der Eurogruppe, das US-Wirtschaftsnobelpreisträger Paul Krugman in Anspielung auf das Mafia-Epos Der Pate einen „umgekehrten Corleone“ nennt: „Sie machten Tsipras ein Angebot, das er nicht annehmen kann und taten dies wohl wissentlich. Das Ultimatum war also effektiv ein Schritt, um die griechische Regierung zu ersetzen.“ In der Tat fiel die Offerte für Griechenland derart ungünstig aus, dass Tsipras nicht auf eine eigenständige parlamentarische Mehrheit bauen konnte. Obendrein musste er fürchten, von seinen Wählern genauso hart abgestraft zu werden wie seine Vorgänger. Von den vier Parteien, die in den Krisenjahren Kürzungspolitik betrieben haben, sind zwei in der Versenkung verschwunden, während die sozialdemokratische Pasok mit gut vier Prozent kurz davor steht. Lediglich die konservative Nea Dimokratia konnte sich auf gesunkenem Niveau stabilisieren. Syriza weiß um diese Gefahr. Schließlich verdankt das Bündnis seinen Aufstieg einer breiten Protestbewegung und ist bis heute eng vernetzt mit zahlreichen Nachbarschaftsversammlungen und Nothilfe-Initiativen.Mahnung aus WashingtonIn dieser Situation zog Athen die Reißleine und setzte ein Referendum an. Die Abstimmung soll der Regierung einerseits Rückhalt verschaffen, andererseits sandte schon ihre Ansetzung eine dramatische Botschaft – ihr wichtigster Adressat ist Berlin: Der europäische Hegemon soll seine Führungsrolle wahrnehmen und die Krise mit jenem „ehrenvollen Kompromiss“ lösen, den Syriza stets angestrebt hat. Angela Merkel, so das verzweifelte Kalkül, werde sich erklären müssen. Will sie das vereinte Europa bewahren, auch wenn das Geld kostet? Oder gibt sie nationalistischen Stimmungen nach?Merkel steht nun vor einer schweren Entscheidung: Entweder riskiert sie eine Rebellion von Teilen ihrer Partei oder sie trägt eine erhebliche Verantwortung für den möglichen Zerfall der Eurozone. Ein Zünglein an der Waage könnte die US-Regierung sein. Washington fürchtet aus geostrategischen Überlegungen den Bruch zwischen Griechenland und der EU, der Athen näher an Moskau oder Peking rücken könnte. Daher intervenierten US-Präsident Barack Obama und sein Finanzminister in den vergangenen Tagen in Berlin und Paris.Merkel hat immerhin Gesprächsbereitschaft zugesichert, allerdings erst nach dem Referendum. Auch der griechische Chef-Unterhändler erklärte am Dienstag, die Verhandlungen seien noch nicht beendet. So könnte am Ende ein Kompromiss stehen, für dessen Zustandekommen beide Seiten ihre extremsten Druckmittel eingesetzt haben: die Drohung mit der Staatspleite Athens einerseits und mit dem Auseinanderbrechen der Währungsgemeinschaft andererseits. Damit wäre die Katastrophe abgewendet. Ein gutes Ergebnis für die Demokratie und die europäische Zusammenarbeit sähe aber anders aus.Placeholder authorbio-1Placeholder link-1Placeholder link-2Placeholder link-3Placeholder link-4