Als sei nichts geschehen

Vor der deutschen EU-Ratspräsidentschaft Den Bürger bemühen, ohne auf ihn zu hören - Angela Merkel will die gescheiterte Verfassung reanimieren

Der Bundesregierung gelang jüngst ein kleines Kunststück. Drei Sätze genügten ihr in einer Pressemitteilung, um ein visionäres Europa zu beschwören, von dem man gern wüsste, wie es zustande kommen soll. Denn zugleich musste eingeräumt werden, wie wenig Zuspruch augenblicklich jenes politische Gebilde findet, auf das sich diese Vision gründet - die EU nämlich. Also wird der Bürger als Souverän eines geeinten Europas bemüht. Im Wortlaut klingt das so: "Europa wird nur gedeihen können, wenn sich die Bürgerinnen und Bürger mit der großartigen Idee der europäischen Einigung (...) identifizieren. Allein die Menschen können dem europäischen Gedanken der Einheit in Vielfalt seine Seele verleihen. Die Bundesregierung will dazu beitragen, neues Vertrauen in die europäischen Institutionen zu schaffen." Den Anlass zu dieser Willensbekundung bot der Blick auf die deutsche Ratspräsidentschaft ab Januar 2007.

Es mutet inzwischen fast banal an, von einer Krise Europas zu sprechen, doch scheint die EU kaum lernfähig, seit Jahren gelingt es ihr nicht, eine wachsende Kluft zwischen Institutionen und Bürgern zu überbrücken. Obendrein beantworten die politischen Eliten zwischen Lissabon und Helsinki eine Schicksalsfrage weiter höchst unterschiedlich: Wie viel Europa darf es zu Lasten des Nationalstaates geben? Seit die EU-Verfassung vor anderthalb Jahren in zwei Gründungsstaaten abgelehnt wurde, sind mit der Konstitution auch Entscheidungen storniert, von denen man sich eine Antwort darauf versprach, wie weit sich der 25-Staaten-Bund in Richtung Supranationalität bewegen will - sprich: dem Anspruch auf die Politische Union auch eine Realität verschafft, die von weltpolitischem Gewicht ist. Österreich und Finnland, die EU-Ratspräsidenten des Jahrgangs 2006, mühten sich redlich, dem vorhandenen Stillstand mögliche Erschütterungen zu ersparen. Auch die Bundesregierung scheut vor ihrem Mandat im ersten Halbjahr 2007 klare Aussagen.

Verstehen kann man diese Zurückhaltung durchaus. Immerhin gibt es diverse Unwägbarkeiten, die allein schon aus der Frage resultieren: Wer wird von den jetzigen Partnern im kommenden Jahr überhaupt noch zur Verfügung stehen? In London dürfte der gemäßigte EU-Befürworter Tony Blair dem gemäßigten EU-Skeptiker Gordon Brown weichen, in den Niederlanden ist nach den Wahlen dieser Woche mit einer anderen Regierung zu rechnen, und in Frankreich wird erst kurz vor Ende der deutschen Ratspräsidentschaft ein neues Staatsoberhaupt gewählt. Und wer auch immer ab Mitte 2007 im Elysée-Palast residiert, hat es mit einer mittelschweren Hypothek zu tun: dem Non der Franzosen zur vorliegenden EU-Verfassung.

Die Europäische Union könnte populärer sein - Berlin will sich dieser Einsicht, wie die eingangs zitierte Erklärung zu verstehen gibt, nicht verschließen, aus Brüssel kommen dazu die nüchternen Fakten in Gestalt des regelmäßig veröffentlichten Eurobarometers. Derzeit kann dem entnommen werden: Rund ein Drittel der EU-Bürger misstraut den europäischen Institutionen, mehr als 50 Prozent glauben, ihre Stimme zähle in der Union nicht. Zudem erwartet nur jeder fünfte eine Verbesserung der ökonomischen Situation seines Landes - dabei gilt die Arbeitslosigkeit nach wie vor als das dringlichste Problem. Längst vollzieht sich in dieser Hinsicht eine spezielle Form der Integration, besser der Nivellierung: In der EU wächst allerorten der Unterschied zwischen arm und reich, rund 68 Millionen Europäer leben in Armut, im Süden mehr als im Norden, im Westen weniger als im Osten. Während das Schengener Abkommen und die Angebote der Billigflieger vorzugsweise den Mittelschichten gesteigerte Mobilitätsfreuden bescheren, gelangen immer mehr Ausgegrenzte nicht über ihr Viertel hinaus - weil das Bus-Ticket zu teuer ist und weil sie nicht wissen, was sie ohne Geld im Nachbarquartier sollen.

Kanzlerin Merkel vertraut anderen Wahrnehmungen. Jüngst bestritt sie in einem Interview, dass vorzugsweise soziale Motive Niederländer und Franzosen veranlasst hätten, den Verfassungsvertrag mehrheitlich abzulehnen. Daher könne es auch beim vorliegenden Text bleiben. Ohnehin geistert durch Medien und Wissenschaft seit Monaten die Auffassung, die Verfassung sei streng genommen gar nicht abgewiesen worden - Franzosen und Niederländer hätten mit ihrem Votum lediglich diffuse Ängste artikuliert, einen EU-Beitritt der Türkei verhindern, die Osterweiterung missbilligen oder ihre Regierung verwarnen wollen. Obendrein - wird unterstellt - habe der gewöhnliche Wähler den Verfassungstext weder gelesen noch verstanden.

Diese Argumentation kündet von Ignoranz und der Verachtung demokratischer Entscheidungen. Die Abfuhr für die Verfassung kam aus den unteren und mittleren Schichten, wie Nachwahlbefragungen von IPSOS, einem großen französischen Meinungsforschungsinstitut, ergaben. Demnach stimmten 79 Prozent der Arbeiter und 67 Prozent der kleinen Angestellten mit Nein, genauso wie 71 von 100 Arbeitslosen. Ihr Nein galt nicht Europa an sich, es galt einem Europa des Wettbewerbs und der sozialen Kälte. Sie wussten, warum sich diese Ablehnung ausgerechnet gegen die Verfassung richtete. IPSOS gegenüber nannten sie als eines ihrer maßgebenden Motive, der Entwurf sei in ökonomischer Hinsicht ein Zeugnis sozialen Unrechts und fehlender Gerechtigkeit.

Diesem Urteil war eine breite Aufklärung voraus gegangen: Kommentare und Analysen zur EU-Verfassung dominierten im Frühjahr 2005 die französischen Bestsellerlisten, im Internet und auf Flugblättern zirkulierten lange Passagen des Textes. Mehr als 800 lokale Kollektive trugen die französische Nein-Kampagne. Die Niederlande erlebten gleichfalls eine EU-Debatte von zuvor unbekannter Intensität. Demokratischer konnte ein Votum kaum zustande kommen; denn Demokratie meint mehr als eine Regierungsform. Demokratie muss heißen, möglichst viele Entscheidungen in die Hände der Betroffenen zu legen und den Einzelnen in die Lage zu versetzen, politisch zu handeln. Dies ist der Nein-Kampagne in Frankreich beispielhaft gelungen.

Der Bürger solle dem geeinten Europa "seine Seele verleihen", schwadroniert die Bundesregierung und leistet einen Offenbarungseid, wenn sie dem neoliberalen Verfassungswerk eine geradezu biblische Treue hält. Den Souverän hofieren, um ihn gleichzeitig zu ignorieren - besser lässt sich politischer Realitätsverlust nicht dokumentieren.


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