Bedenkzeit

Anläufe Wie das offizielle Europa nach einem Weg aus der Krise sucht

Eigentlich sollte alles klar sein: 14 von 25 Mitgliedsstaaten haben den so genannten "Vertrag für eine Verfassung für Europa" ratifiziert. Zwei Gründungsmitglieder des europäischen Clubs sagten im vergangenen Jahr jedoch per Volksabstimmung "Nein". Wirksam wird die Verfassung erst, wenn alle Staaten zugestimmt haben, also liegt sie auf Eis. Obendrein erweist sie sich als äußerst unbeliebt: Laut dem jüngsten Eurobarometer, einer regelmäßigen Umfrage der Kommission, sprechen sich nur 49 Prozent der Europäer für eine neue Verfassung aus, 13 Prozent wollen ganz auf sie verzichten.

Bis Juni haben sich die EU-Offiziellen eine "Denkpause" verordnet - bislang sieht es nicht so aus, als sei sie fruchtbar gewesen. Zumindest zeigen sich die politischen Eliten uneins, auf welchem Weg Europa eine Verfassung beschert werden könnte - und vor allem: wie diese auszusehen hätte. Einige üben sich aus innenpolitischen Motiven in Defätismus, etwa Tony Blair - der diagnostizierte jüngst, gestorben sei der bestehende Entwurf noch nicht, aber "klinisch tot". Doch kursieren Vorschläge zu seiner Reanimation - vier Modelle lassen sich erkennen: Die einen wollen den Verfassungsentwurf unverändert verabschieden, andere möchten ihn vorher leicht modifizieren, wieder andere plädieren für einen neuen Text und einige für den Verzicht auf eine Konstitution.

Der kontinentale Zusammenschluss der Christdemokraten, die Europäische Volkspartei, rief Ende März dazu auf, den bestehenden Text zu verabschieden. Angela Merkel - ab Januar 2007 EU-Ratspräsidentin - und andere konservative Regierungschefs wollen den Entwurf lediglich um eine unverbindliche Erklärung zur "sozialen Dimension Europas" ergänzen. Franzosen und Niederländer sollen dann nur über diesen Appendix und die ersten Kapitel des Vertrages erneut abstimmen, der Rest bliebe den Parlamenten vorbehalten.

Hollands Konservative hingegen fordern einen neuen Entwurf; denn, so der Christdemokrat Jean Pender gegenüber dem EU-Observer: "Wenn wir den Ratifizierungsprozess fortsetzen, sähe es nach einem Referendum über den selben Text in unserem Land aus, und das ist unmöglich". Dies meinten auch die französischen Konservativen, so Pender, "sie wollen das momentan aber nicht zu laut verkünden, da es ein Signal wäre, dass die Europäische Volkspartei die Verfassung begraben hat". Für den niederländischen Außenminister Bernard Bot steht außer Frage, "dieser Verfassungsvertrag ist tot. Wir wollen damit sagen, dass wir den Vertrag nicht noch einmal zur Ratifizierung vorlegen werden".

Andere wollen den bestehenden Entwurf konsensfähiger machen, etwa der frühere EU-Kommissionspräsident Romano Prodi. Ihm schwebt ein "vereinfachter Text" vor, der Sozial- und Umweltaspekte stärker betont und in allen EU-Staaten per Volksbefragung abzustimmen sei, deren Ergebnis aber "nicht zwingend" befolgt werden müsse. Ähnlich argumentieren die Grünen im Europäischen Parlament: Bloß "strukturelle oder kosmetische Verbesserungen" am Entwurf dürfe es nicht geben; eine überarbeitete Verfassung solle 2009 "in einem europaweiten Referendum angenommen (sic!) werden". Auch Portugal, das 2007 die Ratspräsidentschaft von Deutschland übernimmt, will substanzielle Veränderungen: Premier Socrates erklärte, eine Volksabstimmung in seinem Land gebe es erst, wenn ein neuer Text vorliege. Kategorisch formulierte Polens Präsident Lech Kazynski gegenüber dem Figaro: "Dieser Vertrag hat praktisch keine Chance in Polen ratifiziert zu werden, weder durch ein Referendum, noch über den parlamentarischen Weg".

Für Belgiens Premier Guy Verhofstadt hingegen zeigt die Verfassungskrise, dass ein Kerneuropa gebraucht werde: Die Staaten der Eurozone sollten jetzt eine Vorreiterrolle bei der weiteren Integration übernehmen.

Und der ehemalige EU-Kommissar Frits Bolkestein gibt im Interview mit der Wochenzeitung Express die Verfassung ganz auf: "Es gilt, das zu bewahren und zu verstärken, was gut läuft: etwa den Binnenmarkt und den Außenhandel". Die EU könne auf der Basis des Vertrages von Nizza weiterarbeiten, auch wenn das "nicht komfortabel" sei.

Als sicher gilt derzeit nur, mit einem erneuten Anlauf wird frühestens 2007 gerechnet: nach der Präsidentenwahl in Frankreich und rechtzeitig zum Beitritt von Bulgarien und Rumänien.


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