Die Verräter von Genf

Modell für den Frieden Vor drei Jahren einigten sich prominente Israelis und Palästinenser auf ein Lösungsmuster für den Nahost-Konflikt

Ein zweijähriger Verhandlungsmarathon war vorausgegangen, als Israelis und Palästinenser Ende 2003 die "Genfer Initiative" präsentierten und damit sowohl auf teilweise vehementen Widerstand, aber auch auf verhaltene Akzeptanz und offene Zustimmung stießen. Da nach dem Waffengang im Libanon wieder die längst gescheiterte "Road Map" als Königsweg beschworen wird, um eine Verständigung zwischen Israelis und Palästinensern zu ermöglichen, sollte daran erinnert werden, es gibt auch andere Lösungsvarianten, auf die sich zurückgreifen ließe.

Das Ambiente schien zu stimmen, als sich am 1. Dezember 2003 in Genf die Delegationen zu einem Festakt trafen. Der Hollywood-Schauspieler Richard Dreyfus moderierte, Jimmy Carter und Lech Walesa waren als Ehrengäste erschienen, Nelson Mandela, Bill Clinton und Romano Prodi sandten Grußbotschaften. Und auch in den Verhandlungsdelegationen fehlte es nicht an Prominenz. Bei den Israelis sah man den ehemaligen Justizminister Jossi Beilin neben dem einstigen Chef der Arbeitspartei, Amram Mitzna, und dem Knesset-Abgeordneten Avraham Burg (ebenfalls Arbeitspartei). Mit Nehama Ronen hatte sich sogar ein früherer Likud-Parlamentarier zur Reise nach Genf entschlossen, um hier zusammen mit den Reserve-Generälen Gidon Schefer und Giora Inbar sowie dem Schriftsteller Amos Oz einen bis dahin einmaligen Dialog zu führen. Für die Palästinenser verhandelte mit dem ehemaligen Informationsminister Yaser Abbed Rabbo ein Arafat-Vertrauter, flankiert von den Ex-Ministern Nabil Kassem und Hisham Abdel Razeq - moralisch unterstützt durch den damals schon in israelischer Haft sitzenden Fatah-Generalsekretär Marwan Barghouti.

Durchbruch in der Flüchtlingsfrage

Keiner von ihnen konnte ein Mandat seiner Regierung vorweisen, was gewiss ein Grund dafür war, dass die "Genfer Initiative" in Jerusalem und Ramallah auf wenig Gegenliebe stieß, auch wenn die mediale und politische Resonanz ansonsten beachtlich war. Immerhin hatten Ägypten und Marokko offizielle Beobachter entsandt, sollte der damalige US-Außenminister Collin Powell bald darauf die "Genfer Initiatoren" in Washington empfangen und der Bundestag in Berlin fraktionsübergreifend die gefundene Übereinkunft gutheißen.

Deren Urheber hatten nicht von einem "Abkommen" sprechen wollen, sondern die Bezeichnung "Genfer Initiative" gewählt, was einem Understatement gleichkam, denn schließlich wurde auch bei bis dahin höchst strittigen Fragen ein Konsens gefunden. Das galt vorrangig für den Umgang mit den palästinensischen Flüchtlingen - die hier erzielte Einigung schien ein Durchbruch. Danach sollten die Opfer der Vertreibungen von 1947/48 vorzugsweise in einem künftigen palästinensischen Staat Aufnahme finden, während nur einem kleinen Teil das Recht auf eine Rückkehr nach Israel zugestanden wurde.

Hunderttausenden von Flüchtlingen wäre eine solche Regelung vermutlich entgegen gekommen; denn laut einer Umfrage des Palestinian Center for Policy and Survey Research aus dem Jahr 2003 wollten seinerzeit nur zehn Prozent wieder in Israel leben - 54 Prozent hingegen in einem Palästinenserstaat. Die "Genfer Initiative" bot eine weitere Option: Wer sich für die Integration in seinem bisherigen Gastland entschied - etwa in Jordanien oder im Libanon -, konnte eine finanzielle Entschädigung beanspruchen. Der palästinensische Staat selbst sollte laut "Genfer Initiative" im Westjordanland und im Gazastreifen mit der Hauptstadt Ost-Jerusalem entstehen - bei einem Rückzug der Israelis auf die Grenzen von 1967. Für fortbestehende Siedlungen im Westjordanland war zur Kompensation an einen Gebietsaustausch im Verhältnis 1 : 1 gedacht. Der Genfer Dialog hatte letzten Endes alle Grundfragen zu klären verstanden - daraus konnte geschlussfolgert werden: Sollte das Konsenspapier eines Tages von beiden Seiten als Vertrag anerkannt sein, wäre der Konflikt beigelegt.

Eine akademische Übung eben

Als die Einigung bekannt wurde, bezichtigte Israels extreme Rechte Beilin und seine Mitstreiter umgehend des "Landesverrats". Die Regierung Sharon distanzierte sich gleichfalls scharf von der "Initiative", ebenso Ehud Olmert (seinerzeit noch Likud). Auch Ehud Barak übte als Vorsitzender der Arbeitspartei herbe Kritik. Präsident Moshe Katsav würdigte zwar "die Idee", betonte aber, verhandeln müsse nun einmal die Regierung. Trotz dieser geharnischten Reaktionen gaben die Genfer Emissäre nicht auf und verschickten ihr Dokument der Versöhnung an alle Haushalte in Israel. Was sich auszahlen sollte: Heute kennen 90 Prozent der Israelis die "Genfer Initiative", ein Drittel unterstützt sie, so eine jüngst veröffentlichte Umfrage. Dabei hat sich freilich das Meinungsbild seit 2003 kaum verändert: mehrheitliche Zustimmung bei Anhängern der Arbeitspartei, entschiedene Absage durch die Wähler des Likud, Unentschlossenheit im Umfeld der 2005 gegründeten Kadima-Partei.

Wie nicht anders zu erwarten, entzündete sich unter den Palästinensern eine leidenschaftliche Debatte über die Flüchtlingsfrage. Das Rückkehrrecht für die bei der israelischen Staatsgründung vom Mai 1948 ins Exil Getriebenen galt stets als nicht verhandelbar, daran war letztlich auch der Camp-David-Gipfel zwischen Yassir Arafat und Ehud Barak im Juli 2000 gescheitert. Hamas, aber auch Teile der Volksfront für die Befreiung Palästinas (PFLP) lehnten die Genf kategorisch ab. Zeitgleich mit der eingangs geschilderten Zeremonie in der Schweiz rief Hamas zu einer Großdemonstration im Gazastreifen unter der Losung: "Nein zum Verrat, nein zu den Verrätern!"

Was denkt die palästinensische Bevölkerung heute? Suhair Manassre, Gouverneur von Bethlehem und erklärter Befürworter, meint, 40 Prozent seiner Landsleute seien dafür. Dem widerspricht der Journalist Sobhi al-Zubaidi, auch er ein Befürworter. Eine klare Mehrheit wolle von Genf nichts wissen. Al-Zubaidi forderte schon vor dem Wahlsieg der Hamas, einer wie auch immer gearteten Verhandlungslösung müsse ein "nationaler Dialog" mit allen relevanten Kräften voraus gehen. Dies anzustoßen, bemühte sich jüngst bekanntlich Marwan Barghouti mit seinem 18-Punkte-Plan (s. Freitag 24/06), ein erklärter Anhänger der Schweizer Lösung.

Genau wie Yaser Abbed Rabbo wirbt auch Jossi Beilin weiterhin für die Ergebnisse von Genf. Er steht mittlerweile der neuen Linksallianz Yachad vor, konnte mit ihr bei den vergangenen Knesset-Wahlen aber nur 3,7 Prozent der Stimmen erringen (fünf Knesset-Mandate). Hier liegt eine der entscheidenden Hürden für die "Genfer Initiative" - ihre Sympathisanten in Israel stammen zumeist aus dem linken Lager, es gilt daher, wenigstens einige der bisherigen Kritiker zu überzeugen. Die palästinensischen Unterhändler in Genf waren bis zum Wahlsieg der Hamas eng mit der Autonomiebehörde verbunden. Auch hier dürfte vieles davon abhängen, ob ein parteiübergreifendes Arrangement gelingt. Sonst wird die "Genfer Initiative" jenen Urteilen unterworfen bleiben, wie sie Avi Primor, einst israelischer Botschafter in Deutschland, schon vor zwei Jahren fällte: "Jedermann weiß doch, das ist kein Friedensvertrag. Ich würde eher von einer akademischen Übung sprechen."


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