Die Würde des Nonkonformismus

Fahrenheit 451 Am 22. August wird Ray Bradbury 90 Jahre alt. Sein Science-Fiction-Plädoyer für das freie Denken liegt nun als Comic-Adaption vor – und überzeugt immer noch

Diese Geschichte hat auf ihre Wiederaufnahme gewartet. Ray Bradbury präsentierte in seinem Dystopie-Klassiker Fahrenheit 451 eine Gesellschaftskritik, die immer noch – oder wieder – überzeugt. Erstmals 1953 erschienen, verhandelt der Roman die kulturellen Konsequenzen neuer Medien ebenso wie eine ausgreifende staatliche Kontrollpolitik. Der Zeichner Tim Hamilton hat nun eine visuell eindrucksvolle Comic-Adaption vorgelegt, ergänzt um ein angenehm unprätentiöses Vorwort von Bradbury.

Erzählt wird die Geschichte des Feuerwehrmanns Guy Montag, irgendwann in einem totalitären Amerika. Die Häuser sind längst brandfest und die einstigen Löschkräfte zur Gedankenpolizei umfunktioniert worden. Seit Jahren gilt der Besitz von Büchern jeglicher Art als strafbar. Montag und seine Kollegen spüren den letzten verbliebenen Privatbibliotheken nach. Sobald sie fündig werden, legen sie an Ort und Stelle Feuer: Bei 451 Grad Fahrenheit (232 Grad Celsius), beginnt Papier zu brennen. Nach und nach entfaltet die Geschichte ein beklemmendes Szenario, das Hamilton in gedämpfte, düstere Farben und harte Kontraste übersetzt: Politik ist aus dem Alltag verschwunden und existiert nur noch als weitere Konsumenten-Option; folglich gewinnt der besser aussehende und vitalere Kandidat die Präsidentschaftswahlen. Niemand stellt den Status Quo öffentlich in Frage. Dissident ist, wer sich nicht unterhalten lassen will. Solche Abweichler sterben bald durch angebliche Unfälle oder werden in die Psychiatrie eingewiesen.

Die politischen Konturen dieser Gesellschaft bilden in Fahrenheit 451 aber nur den skizzenhaft angedeuteten Hintergrund. Seine eigentliche Stärke – und seine Aktualität – bezieht das Buch aus dem eindringlichen Porträt einer Bevölkerung, die sich fröhlich selbst entmündigt. Bei Bradbury haben die Menschen ihre Freiheit nicht an einen brutalen Polizeistaat verloren, der ihnen einen grauen, trostlosen Alltag aufzwingt. Vielmehr fügen sie sich aus Apathie oder Desinteresse in die Fremdbestimmung. Sie begrüßen die wachsende Unfreiheit sogar, weil sie ihnen unliebsame Entscheidungen abnimmt. Bücher hingegen enthalten womöglich streitbare Inhalte, werfen Fragen auf und befeuern Konflikte. Wer will schon mit lästiger Unruhe behelligt werden, wenn er Sport und Show bekommen kann? So haben sich die meisten Bürger im Konformismus bequem eingerichtet. Für sie kommt die Diktatur bunt und freundlich daher und bietet umfassendes Freizeitvergnügen, während jenseits der Grenzen der Atomkrieg tobt.

Wand-an-Wand-Funk

Auch der Protagonist Montag gehört zu den Angepassten und empfindet tiefe Freude, wenn er bedrucktes Papier in Flammen setzt. Zugleich fühlt er eine unbestimmte Leere; all seine sozialen Beziehungen verbleiben im Oberflächlichen, sogar seine Ehe mit Mildred. Sie lebt völlig für den Wand-an-Wand-Funk, eine Art 3D-Fernsehen. Einmal realisiert sie ihr Unglück und unternimmt einen Selbstmordversuch, den sie am Tag darauf verdrängt haben wird. Montags Zweifel wachsen, und sie werden bestärkt durch Begegnungen mit seiner neuen Nachbarin Clarisse McClellan und dem Intellektuellen Faber. Als bei einem Einsatz eine ältere Frau lieber stirbt, als ihre Bücher zu verlassen, beginnt der Feuerwehrmann seinen Weg in die Opposition. Und der führt ihn schließlich zu einer Gruppe Verfemter, die als Obdachlose im Wald leben und Bücher auswendig lernen, um deren Inhalt auf diese Weise vor der Vernichtung zu bewahren.

Bei ihnen erlebt Montag, wie der Krieg in die USA zurückkehrt und die amerikanischen Großstädte vernichtet werden. Einer der ausgestoßenen Akademiker erinnert an den Mythos vom Phönix: „Aber jedes Mal, wenn er sich verbrannte, erhob er sich neugeboren wieder aus der Asche. Eines Tages werden wir aufhören, diese verdammten Scheiterhaufen zu errichten und mitten hinein zu springen.“ So zieht Montags Gruppe in die Ruinenlandschaft, um Rat und Trost anzubieten.

In seinem Comic beweist Tim Hamilton ein gutes Gespür für den Rhythmus der Vorlage. Er verwendet durchgängig Bradburys Originaltext und findet ebenso Bilder für die oft nur subtilen Unmenschlichkeiten der dargestellten Gesellschaft wie für die Momente, in denen Guy Montag innehält: Da wechselt eine expressive Grafik, wenn stark stilisiertes Feuer aus dem Flammenwerfer schießt, mit Studien in Blau, wenn Montag den Regen auf seiner Zunge fühlt. Orientiert am grafischen Stil der Noir-Krimis zeigt Hamilton den inneren Kampf Montags gegen den einlullenden Konformismus in ausdrucksstarken Bildern und gelungenen Perspektivwechseln.

Parabel über den Kulturverfall

Auch wählt Hamilton klugerweise eine universelle Bildsprache, seine städtische Panoramen, Autos oder Menschen können keiner bestimmten Zeit zugeordnet werden. Er beugt damit der Historisierung eines Stoffes vor, dessen Kritik aktuell geblieben ist. Unschwer lässt sich diese Geschichte als Parabel über den Kulturverfall deuten. In Fahrenheit 451 versinnbildlicht das Fernsehen den Verlust von zwischenmenschlicher Kommunikation, Muße und freiem Denken.

Fast 60 Jahre nach Erstveröffentlichung des Romans werden solche Ängste heute auf das Web 2.0 projiziert, dessen interaktiven Charakter Bradbury bei seinem Wand-an-Wand-Funk bereits vorweggenommen hatte. Zu hören gibt es einen solch pessimistischen Ton aktuell etwa, wenn die Brockhaus-Tradition gegen die vermeintlich stümpernde Masse der Wikipedia-Autoren in Stellung gebracht wird. Stärker noch als die Technologiekritik ist ein anderer Zug in Bradburys Buch. Fahrenheit 451 warnt vor dem Nicht-Wissen-Wollen, das die wahre Dummheit darstellt – und vor den Gefahren von Ignoranz und Apathie. Zugleich plädiert es vehement und leicht melancholisch für das freie Denken, die intellektuelle Neugier und die Würde des Nonkonformismus. Hamiltons Comic lädt dazu ein, diesen beeindruckenden Text erneut oder erstmals zu entdecken.

Fahrenheit 451Ray Bradbury, Tim Hamilton Aus dem Englischen von Fritz Güttinger, Eichborn, Frankfurt am Main 2010, 160 S., 22,95

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