Auf dem Weg zur Anerkennung des Comics als Kunstform hat Alison Bechdel einen Meilenstein gesetzt. Ihre jüngste Arbeit verwebt auf raffinierte Weise eine schwierige Familiengeschichte mit Werken der Weltliteratur. Joyce, Proust oder Colette finden ganz selbstverständlich Eingang in diese Graphic Novel, die in den USA prompt als literarisches Werk begrüßt worden ist. Das Time Magazine erklärte Fun Home zum "besten Buch des Jahres". Die New York Times führte den Überraschungserfolg zwei Wochen auf ihrer Bestsellerliste. Kiepenheuer Witsch ließ vom ersten Comic in seinem Programm eine beachtliche Auflage von 30.000 Stück drucken und betraute mit der anspruchsvollen Übersetzung zwei bekannte Publizisten. Sabine Küchler und Denis Scheck haben eine stilsichere deutsche Fassung vorgelegt, die alle Nuancen zwischen Hochkultur und Umgangssprache einfängt.
Fun Home bezeichnet kein Haus, in dem viel gelacht würde. "Fun Home" taufen Alison Bechdel und ihre Brüder das elterliche Funeral Home. Besagtes Bestattungsinstitut haben die Bechdel-Kinder auf Geheiß ihres Vaters derart oft säubern und dekorieren geholfen, dass es seinen Schrecken verloren hat. Der Titel ist gut gewählt: Ein bittersüßer Grundton trägt die Erzählung, Melancholie und feiner Humor halten einander die Waage.
Alison Bechdel versucht in Fun Home eine Annäherung an ihren Vater Bruce, dessen Strenge und dessen Launen die Familie prägen. Seine äußere Härte entspringt wesentlich einer Härte gegen sich selbst. Mit 14 Jahren entdeckt Bruce Bechdel seine Homosexualität, wagt aber nicht, sie offen zu leben. Er heiratet, wird Vater dreier Kinder und bleibt in seinem abgeschiedenen Geburtsort in der amerikanischen Provinz wohnen. Seine Leidenschaft gilt, abgesehen von gelegentlichen Affären, fortan dem Ästhetischen: Er renoviert und dekoriert mit Hingabe das Wohnhaus der Familie. Mit Frau Helen und Tochter Alison teilt er die Liebe zur Literatur. Die Strenge, die er gegen seine sexuellen Bedürfnisse walten lässt, legt er gegenüber den Kindern an den Tag. Bruce Bechdel zeigt sich stets reserviert und kontrolliert. Auf Kritik reagiert er empfindlich und ist sich - allem Stilbewusstsein zum Trotz - seiner Wirkung nie sicher. In jungen Jahren erlebt Alison Bechdel ihren Vater als einen lieblosen Menschen. Sie leidet an der gespannten Atmosphäre in ihrem Elternhaus und prägt zeitweilig Zwangsneurosen aus.
Später wählt Alison Bechdel jenes Bohemien-Leben, das ihre Eltern gern geführt hätten. Und im Unterschied zu ihrem Vater entscheidet sie sich mit 19 für ein Coming-Out. Danach scheint jene tiefere Bindung zum Vater möglich, die Alison immer ersehnt hat. Einen Anflug von emotionaler Nähe ist bereits während ihrer Pubertät über die gemeinsamen literarischen Vorlieben entstanden. Jetzt verbindet Vater und Tochter mehr, sie tasten sich aneinander heran. Doch wenig später stirbt Bruce Bechdel im Alter von 44 Jahren bei einem Verkehrsunfall - möglicherweise durch eigenen Willen, wie Fun Home nahe legt: "Wer sein ganzes Leben lang die eigene erotische Wahrheit verleugnet, mag am Ende auch die eigene Existenz widerrufen. Sexuelle Scham ist auch eine Art Tod."
Alison Bechdel formuliert das eher als Hypothese denn als Urteil. Weder will sie sich zur Richterin erheben, weil sie offen lebt, was der Vater wohl heimlich ersehnt hat. Noch neigt sie zu allzu eindeutigen und damit vereinfachenden Interpretationen. Bewusst verzichtet sie auf eine chronologische Darstellung und wählt eine ausgeklügeltere Erzählform. Sie kreist in Episoden, Anekdoten und Exkursen um zentrale Momente des gemeinsamen Lebens mit ihrem Vater. Die aufgeworfenen Fragen und literarischen Parallelen steigern die Intensität und Spannung der Lektüre beträchtlich. So hat Bruce Bechdel vor seinem Tod den Debütroman Albert Camus´ gelesen. Fieberhaft sucht Alison in dem Buch nach Anstreichungen, schließlich trägt es einen sprechenden Titel: Der glückliche Tod - das könnte in einer bibliophilen Familie als Hinweis auf einen geplanten Suizid durchgehen. Aber hat Camus nicht andererseits den Selbstmord als untaugliche Antwort auf das Absurde verworfen? Unterstreichungen finden sich keine, das Rätsel bleibt ungelöst.
Solche literarische Referenzen bietet Fun Home oft, und immer bettet Alison Bechdel sie mit leichter Hand ein, nie wirkt das aufgesetzt oder bemüht. Wenn sie etwa das Verhältnis zum Vater nach ihrem Coming-Out beschreibt, variiert sie James Joyces Ulysses: "Er dachte, ich dächte, er sei schwul, aber wie er wusste, wusste ich, dass er wusste, dass ich es auch war", schreibt Bechdel. Joyce charakterisiert das Verhältnis seiner Protagonisten im Original so: "Er dachte, er dächte, er wäre Jude, wohingegen er wusste, dass er wusste, dass er wusste, dass er´s nicht war." Das ist keine Spielerei; denn zu diesem Zeitpunkt liest Alison den Ulysses eher notgedrungen als enthusiastisch in einem Uni-Seminar, während ihr Vater das Werk als sein Lieblingsbuch schätzt.
Indem sie einen solchen Referenzrahmen spannt, demonstriert Alison Bechdel einmal mehr, wie wenig die Unterscheidung in Hoch- und Populärkultur noch greift. Fun Home lebt vom harmonischen Miteinander verschiedener Stile: alltägliches Idiom in den Sprechblasen; eine reflektierende und literaturgesättigte Erzählstimme über den Bildern; dazu die poetischen Verweise aus dem Fundus großer Klassiker. Die Durchlässigkeit von Underground und Mainstream verkörpert Alison Bechdel übrigens in eigener Person: Vor Fun Home - ihrer ersten großen Arbeit - hat man sie allenfalls in Insider-Kreisen gekannt. Ihre Serie Dykes to Watch Out For, in der sie humorvoll den lesbischen Alltag schildert, erscheint in kleinen Zeitungen. Dem Undergroundstil ist sie mit ihren Zeichnungen in Fun Home weitgehend treu geblieben, sie nutzt aber den erweiterten Gestaltungsspielraum des Albumformats, um die Dramaturgie und Rhythmik der Bildfolge zu variieren.
Können verrät vor allem die Art und Weise, wie sie Text und Bild zueinander bringt. Besonders gut ist ihr das beim resümierenden und doch interpretationsoffenen Schluss gelungen. Dort legt sie nahe, Fun Home nicht bloß als die Geschichte eines Scheiterns (des Vaters und ihrer Beziehung zu ihm) zu lesen.
Dafür greift sie auf Ikarus zurück, der in der Sage den Rat seines Vaters ausschlägt und stirbt. Diesen Hinweis hat sie schon zu Anfang des Bandes gelegt, wo sie notiert: "In unserer Neuauflage des Mythos sollte nicht ich, sondern mein Vater vom Himmel stürzen." Am Ende des Bandes bemerkt sie dann: "Er ist aber ins Meer gestürzt." Der Text bezieht sich erneut auf Ikarus; die Worte aber sind in ein Bild integriert, das einen anderen Kontext schafft: Dort sieht man den Lastwagen, unter dem Bruce Bechdel den Tod fand. Im nächsten Bild zeigt Alison Bechdel eine Schwimmbadszene: Sie steht als kleines Kind auf dem Sprungturm, ihr Vater wartet mit ausgebreiteten Armen im Becken. Dazu textet sie: "Doch in der vertrackt invertierten Erzählung, in der unsere Geschichten verbunden sind, war mein Vater zur Stelle, als ich sprang."
Zwei Bilder und wenige Sätze genügen Alison Bechdel, um ein kompliziertes Verhältnis auf den Punkt zu bringen, um verpasste Chancen anzudeuten und um all dies literarisch zu interpretieren. Eine solche Virtuosität, die reichlich von den Möglichkeiten grafischen Erzählens Gebrauch macht, ist selten. Fun Home ist intellektuelles Lesevergnügen und berührende Autobiografie in einem.
Alison Bechdel Fun Home: A Family Tragicomic" target="_blank">Fun Home. Eine Familie von Gezeichneten. Deutsch von Sabine Küchler und Denis Scheck, Kiepenheuer Witsch, Köln 2008, 240 S., 19,90 EUR
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