Erinnerung und Regen

Gourmetfraktion Porträt des Schriftstellers und melancholischen Intellektuellen Manuel Vázquez Montalbán

Um ein Land zu verstehen, muss man sein Brot essen und seinen Wein trinken"; dieses Marx-Zitat legt der spanische Schriftsteller Manuel Vázquez Montalbán seinem Serienhelden Pepe Carvalho mehr als einmal in den Mund. Montalbán selbst hat ausgiebig von dem Wein und Brot seines Geburtslandes Spanien gekostet. Er zehrte von den kargen Mahlzeiten kurz nach dem Bürgerkrieg, aß die Kost des politischen Gefangenen in der Franco-Diktatur und schwelgte in den Angeboten der Gourmetrestaurants im demokratisierten, aber allzu vergesslichen Spanien seit 1975.

Manuel Vázquez Montalbán ist Spaniens meistgelesener Gegenwartsautor, zugleich ein scharfzüngiger politischer Essayist und literarischer Chronist der "transición", des Übergangs vom Franquismus zur parlamentarischen Demokratie. Als Romancier wie als eingreifender Intellektueller passt er in keine nach Industrienorm gefertigte Schublade.

Geboren wird er 1939 im Barrio Chino, dem Armenviertel am Hafen Barcelonas, kurz nachdem die Republik und mit ihr seine antifaschistischen Eltern gegen Francos Putschisten verloren hatten. Als Jugendlicher tritt Montalbán der illegalen KP bei. 1962 wird er verhaftet, als Widerständler verurteilt und nach anderthalb Jahren anlässlich des Todes von Papst Johannes XXIII. amnestiert. In der Haft schreibt er erste expressionistische Gedichte, nach der Entlassung folgen Sachbücher und - noch zu Diktaturzeiten - politische Essays; darunter Información sobre la información, der schnell zur Bibel kritischer Journalisten avanciert. 1972 beginnt Montalbáns Karriere als Krimiautor, an deren Anfang eine Wette mit sich selbst steht: Kann er, der avantgardistische Dichter, ein populäres Genre wie den Kriminalroman meistern? So entsteht Ich tötete Kennedy, ein surreales, genreuntypisches Werk. Nicht zuletzt die formalen Innovationen, wie der Verzicht auf einen linearen Handlungsverlauf, machen das Buch populär; Montalbán beschließt, dem Erstling weitere (allerdings realistischere) Krimis um den Privatdetektiv Pepe Carvalho folgen zu lassen. Diese Reihe wird ihn schließlich zum millionenfach verkauften und in über 20 Sprachen übersetzten Autoren machen.

Pepe Carvalho kann in vielfacher Hinsicht als Alter Ego Montalbáns gelesen werden. Carvalhos Geschichte vor seiner Zeit als private eye weist Parallelen zu Montalbáns Biografie auf: Kindheit im Armenviertel, Mitgliedschaft in der KP, Haft in Francos Gefängnissen. Den Detektiv hat dies entscheidend geprägt: Er misstraut all jenen, die im heutigen Spanien nur die demokratische Normalität des befriedeten Nachkriegseuropas erblicken wollen, deren Geschichtsschreibung erst 1975 beginnt. Dies gilt insbesondere für das sozialdemokratische Milieu, in dem sich ehemalige Angehörige kommunistischer und linksradikaler Unigruppen tummeln. Die einstigen Widerständler argumentieren nunmehr formal und technokratisch, beschwören den Fortschritt des Landes und machen dabei - im doppelten Sinne historisch unbelastet - Karriere. Um der Regierungsfähigkeit und des persönlichen Aufstiegs willen hat die gemäßigte Linke ihre mentale Festplatte bereinigt und zahlreiche historischen Dateien gelöscht.


Diese Geschichtslosigkeit bildet ein wiederkehrendes Motiv Montalbáns, auch über die Pepe-Carvalho-Reihe hinaus. In Das Spiel der Macht etwa steht ein junger Rechtsanwalt als Vertreter einer vergesslichen Generation einer amerikanischen Historikerin, seiner Geliebten, gegenüber, die es ganz genau wissen will: Wie gelangte der baskische Politiker Galíndez 1956 aus seinem New Yorker Exil in die Folterkammern Santo Domingos? Und in Das Quartett porträtiert Montalbán vor der Folie einer raffinierten Liebesgeschichte die Oberflächlichkeit und den Narzissmus in der ersten post-franquistischen Generation.

Zurück zu Pepe Carvalho, der eingedenk der verpassten Chancen der Siebziger melancholisch, aber nie humorlos oder ironiefrei auf das heutige Spanien blickt und seine Freunde unter jenen sucht, die im Schatten stehen. Seine Geliebte Charo arbeitet als Prostituierte, sein Assistent und Koch Biscuter hat mehrfach wegen kleinkrimineller Delikte gesessen und sein verschrobener Informant Bromuro lebt vom Schuhputzen.

Doch Carvalho ist kein Robin Hood mit Detektivlizenz, an allzu direktem Engagement hindern ihn Skepsis und Hedonismus. Politisch bleibt der Detektiv ambivalenter als sein Schöpfer. Schon der Name "Carvalho" entzieht sich spielerisch dem in Spanien immer schwelenden Nationalitätenstreit: Carvalho kommt aus Galizien, pflegt einen nicht zuletzt kulinarischen Lokalpatriotismus für Barcelona und Katalonien, sein Name schreibt sich aber mit einem portugiesischen "h". Auch Carvalhos Biografie entspricht nicht der eines Vorzeigelinken: Gerade dem faschistischen Gefängnis entronnen, geht er in die USA und lässt sich von der CIA anwerben. Zu seinen Hobbys gehört das rituelle Verbrennen von Büchern aus seiner wohl sortierten Bibliothek ("Der Faschist in mir"), was, ganz nebenbei, die Skepsis Montalbáns gegenüber der Wirksamkeit von Literatur bezeugt.

Es kann nicht verwundern, dass die Carvalho-Romane oft keine Krimis im eigentlichen Sinne sind: Manche gehen baden liest sich als ironisch-komödiantisches Porträt des europäischen Bürgertums, hinter dem die Mordserie in einem Kurhotel schnell zurücktritt; am Ende wird bloß die Hälfte aller Todesfälle aufgeklärt. Quintett in Buenos Aires verhandelt das kollektive Gedächtnis im ebenfalls diktaturgeprüften Argentinien und Die Rose von Alexandria geht vor allem einer gescheiterten Liebe nach.

Montalbán schreibt auch deswegen keine konventionellen Krimis, weil ihn seine Sicht der Welt daran hindert. Er weiß, dass Verbrechen nicht an einem imaginären Rand der Gesellschaft entstehen - es sind deren Mechanismen selbst, die Verbrechen provozieren. Gewalt ist daher nicht nur individuell, sondern immer auch strukturell. Verbrechen können aufgeklärt werden, eine abschließende (Er-)Lösung aber kann es so lange nicht geben, wie die zugrunde liegenden Ursachen fortbestehen. Für Montalbáns Protagonisten Pepe Carvalho steht folglich nicht im Vordergrund, die Täter aufzuspüren und zu bestrafen. Er will begreifen, wie es zu der Tat kam. Carvalho kooperiert grundsätzlich nicht mit der Polizei und liefert ihr auch keine Schuldigen aus. Der ehemalige politische Gefangene misstraut den Ordnungskräften, aber er maßt sich zugleich nicht das Recht zur Selbstjustiz an. Gerechtigkeit muss so oft ein uneinlösbares Versprechen bleiben.


Montalbán greift mit seinen strukturell politischen Krimis gelegentlich direkt ins Geschehen ein. Mord im Zentralkomitee erscheint 1981 rechtzeitig zum Parteitag der KP und plädiert für eine Neuorientierung der Kommunisten, weg von der spartanischen Selbstaufgabe der Untergrundzeit. Dazu kontrastiert Montalbán den Feinschmecker Carvalho ("Marxist, Gourmetfraktion") mit dem fiktiven Generalsekretär José Santos Pacheco. Der KP-Funktionär lebt spartanisch und steckt all sein Wollen und Hoffen in die Organisation. Montalbán zeichnet kein Zerrbild, er gestaltet Pacheco als Charakter mit sympathischen Zügen. Der Schriftsteller gehört nicht zu jenen geläuterten Ex-Linken, die mit ätzender Kritik an ihren vormaligen Mitstreitern einen Distinktionsgewinn oder Anerkennung bei der liberalen Öffentlichkeit erzielen wollen. Doch zieht er den Zweifler und Hedonisten Carvalho all jenen vor, die Kritik weder an sich selbst richten, noch an ihre politischen Freunde.

Montalbán erzählt zumeist ruhig, wo es nötig ist verknappt, auch gern fein ironisch, am Ende seiner Bücher oft durchdringend traurig. Gewalt stellt er nie genüsslich dar, sie verliert ihren Schrecken nicht. Immer wieder stößt der Leser auf sprachliche Perlen wie etwa im Quintett, wo es über einen Kommissar, der an die Diktatur zurückdenkt, heißt, "seine Augen füllten sich mit Erinnerung und Regen".

Den jüngst erschienenen letzten Band der Carvalho-Reihe, Requiem für einen Genießer, kann man allerdings nicht empfehlen. Hier begibt sich ein alternder Detektiv auf Weltreise, nachdem er einen ehemals linken, nun neoliberalen Soziologen erschossen hat. Der Roman verrät dabei allzu deutlich den konzeptionellen Wunsch, ein Bild der globalisierten Welt zu zeichnen, er ähnelt einem ausgedehnten Essay über globale und lokale Kulturen und die gewandelten planetarischen Machtverhältnisse, der von der literarischen Handlung nur dürftig zusammengehalten wird.

Manuel Vázquez Montalbán, der 2003 starb, war ein ausgewiesener Vielschreiber, neben über hundert Büchern, darunter zwei Kochbücher, verfasste er eine wöchentliche Kolumne für die linksliberale Tageszeitung El País und unter einem Pseudonym Sportberichte. Von seinen essayistischen Fähigkeiten kann sich der deutsche Leser zurzeit leider nur anhand eines Werkes überzeugen. In Marcos - Herr der Spiegel berichtet Montalbán von einer Reise nach Mexiko, zum Subcomandante der Befreiungsbewegung EZLN. Der Essay besticht durch eine elegante Sprache. So gelingt es dem Schriftsteller, scheinbar mit leichter Hand über die Linke nach dem vermeintlichen Ende der Geschichte zu räsonieren, in die politische Kultur Mexikos einzuführen und seine Reiseeindrücke aus dem lakadonischen Urwald zu schildern. Der eigentliche Reiz des Buches aber besteht in einem ausgedehnten Gespräch zwischen Montalbán und dem Subcomandante. Dabei treffen zwei Intellektuelle aufeinander, die für verschiedene linke Kulturen stehen. Hier der Schriftsteller, der in einer illegalen kommunistischen Partei Westeuropas die ersten politischen Schritte ging und dieser Tradition kritisch verbunden bleibt. Dort der ehemalige Lehrer, der den französischen Neo-Marxismus studierte und nach 1968 von Mexiko-Stadt in die Berge ging, wo er mit einer indigenen Sichtweise konfrontiert wurde. Die Debatte ist von wechselseitigem Respekt geprägt und bewegt sich auf hohem Niveau. In einem Nachruf auf Montalbán bilanzierte Marcos einige Zeit später, man habe sich seinerzeit darauf geeinigt, die "besten politischen Analysen finden sich oftmals in der Weltliteratur".

Bücher von Manuel Vázquez Montalbán:

Das Quartett. Übersetzt von Theres Moser. Wagenbach, Berlin 1998, 112 S., 15,50 EUR

Kaiser oder nichts. Übersetzt von Theres Moser. Wagenbach, Berlin 1999, 360 S., 24,50 EUR

Die lustigen Jungs von Atzavarra. Übersetzt von Willi Zurbrüggen. Wagenbach, Berlin 2002, 320 S., 12,90 EUR

Marcos. Herr der Spiegel. Übersetzt von Gerda Schattenberg-Rincòn. Wagenbach, Berlin 2001, 240 S., 10,90 EUR

Aus der Pepe-Carvalho-Reihe:

Ich tötete Kennedy (vergriffen)

Carvalho und der Mord im Zentralkomitee (vergriffen)

Die Rose von Alexandria. Übersetzt von Bernhard Straub. Piper 2002, 252 S., 8,90 EUR

Quintett in Buenos Aires. Übersetzt von Theres Moser. Piper, München 2002, 544 S., 10,90 EUR

Requiem für einen Genießer. Übersetzt von Theres Moser. Piper, München 2005, 790 S., 24,90 EUR


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