Es war einmal in Akron, Ohio

Graphic Novel Der Zeichner Derf Backderf erzählt in „Mein Freund Dahmer“ von seiner Schulzeit mit dem späteren Serienmörder
Ausgabe 24/2013
Es war einmal in Akron, Ohio

Der Titel klingt wie eine Provokation. Mein Freund Dahmer nennt der Zeichner Derf Backderf seine Graphic Novel und meint damit den gleichnamigen Serienkiller. Jeffrey Dahmer ermordete in den USA zwischen 1978 und 1991 17 Männer, befriedigte sich an ihren Leichen und verspeiste sie zum Teil. Aber um diese schockierenden Details geht es Backderf am wenigsten. Er zeigt keinen dieser Morde im Bild. Die Erzählung endet kurz nach Dahmers erstem Verbrechen und fokussiert auf dessen Jugendjahre.

Backderf will die Taten nicht vollständig biografisch erklären oder gar rationalisieren. Er geht einfach dem, was er selbst erlebt hat, nach. Denn der spätere Zeichner war in der Highschool tatsächlich so etwas wie ein Freund Dahmers, soweit dieser welche hatte. Mit dem Abstand einiger Jahrzehnte und dem Wissen um die Verbrechen des ehemaligen Mitschülers nähert sich Backderf im Comic diesen prägenden Jahren an. Der Zeichner betont im Vorwort, er wolle Dahmer nicht entschuldigen. Statt seinem mörderischen Trieb immer mehr nachzugeben, hätte er sich der Polizei stellen oder selbst richten können. Zugleich ist Backderf überzeugt, dass die Mordserie zu verhindern gewesen wäre. Weniger gleichgültige oder unaufmerksame Erwachsene hätten bemerken können, dass mit dem jungen Dahmer etwas nicht stimmte.

In Akron, Ohio setzt in den späten Siebzigern der industrielle Niedergang ein. Während die Stadt stirbt, bekommt in den Vororten die kleinfamiliäre Idylle Risse. Die Highschool ist durch den Babyboom überlaufen, wer nicht auffällt, wird irgendwie mitgeschleppt. Jeffrey Dahmer gehört zu den Stillen, die immer mehr vereinsamen. Eindrücklich schildert Backderf, wie der Pubertierende feststellt, dass sein sexuelles Begehren nicht der Norm entspricht. Allein seine Homosexualität hätte ihn endgültig zum Außenseiter gestempelt. Aber dass die Männer in seinen Fantasien tot sind, lässt ihn verzweifeln. Über solche offensichtlich kranken Vorstellungen wagt er nicht zu sprechen. Mit wem auch? Die Eltern sind in einer unglücklichen Ehe gefangen, die psychische Gesundheit der Mutter ist angeschlagen, richtige Freunde hat er nicht.

Dahmer ist sehr wohl bewusst, dass in ihm etwas lauert, das nicht befreit werden darf. Er versucht, sich durch starkes Trinken zu betäuben. Sein systematischer Schnapskonsum zwischen den Unterrichtsstunden wird von den Lehrern nicht bemerkt oder ignoriert. Kumpels wie Backderf begreifen die Dimension erst später. Schließlich ist Dahmer nicht der Einzige, der auf dem Schulgelände trinkt oder kifft. Außerhalb der Schule experimentiert Dahmer mit Tierkadavern, die er im Wald aufliest, häutet und zerlegt. Am Ende seiner Highschool-Zeit, als er durch die Trennung der Eltern das Haus für sich allein hat, begeht er seinen ersten Mord.

Backderfs Graphic Novel ist einerseits streng subjektiv. Sie beruht auf Erinnerungen und Gesprächen mit Freunden und klammert alles aus, was sich nach den Highschool-Jahren abgespielt hat. Zugleich hat er sehr sorgfältig recherchiert. Im Anhang nennt er zu jeder Seite Quellen, darunter freigegebene FBI-Akten, Zeitungsartikel und Fernsehinterviews mit Dahmer und dessen Eltern. Der scheinbar provokante Titel erweist sich nach der Lektüre als mutig: Backderf bezeichnet sich als Freund eines Menschen, der landläufig als das „Monster von Milwaukee“ gilt. Dieses Bild zu unterlaufen, ist sein erklärtes Ziel, und es gelingt: Sein Dahmer ist weder Monster noch Opfer seiner Umstände, sondern eher ein Normalo mit monströsen Zügen.

Es gibt jedoch eine generelle Problematik, die jeder Beschäftigung mit Serientätern anhaftet, der auch Backderf nicht entkommt. Da die Verbrechen so außergewöhnlich sind, rücken die Mörder in den Mittelpunkt, und für ihre Opfer fallen allenfalls die Brosamen der Aufmerksamkeit ab. Immerhin hebt Backderfs Arbeit sich von anderen Darstellungen ab, weil sie das Grauen eher andeutet. Dazu passt eine Optik, die sich am Underground der siebziger Jahre orientiert, ein grafischer Stil also, der mit leichtem, eher karikaturhaftem Strich von Abgründigem erzählt. Auch deswegen ist Backderfs in Schwarz-Weiß gehaltene Graphic Novel eine so fordernde wie eindrucksvolle Lektüre.

Mein Freund Dahmer Derf Backderf Stefan Pannor (Übers.), Metrolit 2013, 232 S., 22,99 €

Steffen Vogel schrieb zuletzt über die Comic-Reportage Reisen mit den Roma

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