Freiheit, Gleichheit, Konflikt

Revolte Nuit debout kann an eine lange französische Protestkultur anschließen. Der Vergleich zum Mai 1968 zeigt aber auch die gesellschaftlichen Veränderungen
Ausgabe 23/2016

Traditionell sehnsüchtig blicken deutsche Linke nach Frankreich. Auf der anderen Rheinseite sehen sie jene lebhafte Protestkultur, die sie zu Hause vermissen. Von den aktuellen Streiks und Demonstrationen gegen die Arbeitsmarktreform von Präsident François Hollande fühlen sie sich darin bestätigt: So also wehrt man sich gegen Sozialabbau, auch wenn ihn die Sozialdemokratie betreibt.

Frankreich-Spezial

Wir beschäftigen uns diesmal ausführlich mit Frankreich, dem Gastgeberland der Fußball-EM – aber dabei geht es eben nicht um die altbekannten Klischees der (vermeintlichen) Grande Nation. Mit Reportagen, Essays und Interviews wollen wir das „andere Frankeich“ zeigen. Ein Land zwischen Aufbruch und Aufruhr: Eine Sonderausgabe über unser Nachbarland

Die hiesigen Liberalen und Konservativen hingegen reagieren ermüdet auf die jüngsten Proteste. Für sie erbringt diese Kraftprobe bloß den neuerlichen Beweis der alten These, wonach Frankreich „unreformierbar“ sei. Unterstellt wird dabei stets, dass eigentlich jedem einsichtig sein müsse, welche Reformen der Nachbar denn nun brauche – bloß den renitenten Franzosen nicht. Gerne fällt der abgeklärte Nachsatz, dass in Frankreich „jede Generation einmal Revolution spielen“ müsse.

Ideale von 1789

So polemisch das klingt, ist es doch nicht ganz falsch. In Frankreich sind die Umwälzung von 1789 und alle folgenden Revolutionen – die erfolgreichen wie die gescheiterten – fest im kollektiven Gedächtnis verankert. In jedem Rathaus steht eine Büste der Marianne, der Symbolfigur der Französischen Revolution. Die charakteristische rote Mütze dieser personifizierten Freiheit – als solche malte sie Eugène Delacroix auf seinem berühmten Bild von 1830 – sieht man bis heute bei Protesten jedweder Couleur. Anhänger der Linksfront tragen sie ebenso wie Demonstrantinnen gegen die Ehe für alle. Was sie bei allen fundamentalen Differenzen eint, ist das parteiübergreifend geteilte Bekenntnis zur Republik als Verkörperung der Ideale von 1789.

Und zu diesem Erbe gehört auch ein positives Verhältnis zum gesellschaftlichen Konflikt. Wie in allen romanischen Ländern geht damit auch in Frankreich ein gewisses Verständnis für militantere Formen des Protestes einher, ein Vermächtnis der in Südeuropa einst starken Anarchisten. Traditionell steht dafür nicht zuletzt das alljährliche Gedenken an die Pariser Kommune. Auch sozialistische Politiker legen dabei Blumen am Père Lachaise nieder, dem Pariser Friedhof, auf dem die letzten Verteidiger dieses frühen sozialistischen Experiments im Mai 1871 ihr Leben ließen. Die Wertschätzung des Konflikts zeigt sich heute aber auch an den intensiven intellektuellen Debatten, der Vielzahl politischer Zeitschriften, aber vor allem immer wieder im vehementen öffentlichen Einstehen für die eigenen Interessen. Folglich nutzen viele Franzosen ihr Individualrecht auf Streik und legen die Arbeit aus politischen Gründen nieder, wie derzeit das AKW-Personal aus Protest gegen die Arbeitsmarktreform.

In der Bundesrepublik hingegen ist der politische Streik verboten. Die hiesige politische Kultur ist konsensverliebt. Das mag historisch daran liegen, dass viele entscheidende Veränderungen in Deutschland als Revolution von oben kamen, etwa die Bismarck’schen Sozialreformen, wohingegen sie in Frankreich oft erkämpft wurden. Hauptsächlich aber resultiert dies aus einer Furcht vor der Polarisierung, die einer Lehre aus dem Scheitern der Weimarer Republik entspringt: Der Kampf zwischen der revolutionären Linken und der antidemokratischen Rechten habe die Mitte zerrieben und die Republik in den Abgrund getrieben. Zum Schutz der Demokratie müssten die politischen Kräfte daher auf Kompromiss und Verständigung setzen.

Vielleicht haben wir diese Lektion zu gut gelernt. Denn ein Übermaß an Kompromiss stärkt die Demokratie nicht. Fehlende Konflikte stehen vielmehr für einen Mangel an echten politischen Gegensätzen. Politik wirkt dann einförmig – und viele Menschen sehen ihre Anliegen nicht mehr vertreten. Ironischerweise kann man auch dieses Problem in Frankreich beobachten. Dort verkörpert niemand diesen Mangel besser als Präsident Hollande. Noch im Wahlkampf 2012 stellten die Sozialisten ihren Kandidaten in die Tradition des Aufbegehrens: Videoclips zeigten ikonische Bilder diverser Revolutionen, Hollande selbst beschwor seine Gegnerschaft zur Finanzindustrie und zur neoliberalen Europapolitik Angela Merkels. Habituell und programmatisch bildete er die Antithese zum konservativen Amtsinhaber Nicolas Sarkozy. Dann aber schwenkte Hollande um, die unselige Rede von der Alternativlosigkeit hielt Einzug in die Politik: Heute flexibilisiert die sozialistische Regierung den Arbeitsmarkt, und die konservative Opposition findet die Reform richtig, wenn auch im Detail zu lasch. Als einzig wahre Opposition gerierte sich seit Jahren ausgerechnet der rechtsextreme Front National.

Prekäre Verhältnisse

Das ändert sich aber gerade. Die umstrittene Reform war der letzte Anstoß, um die französische Protestkultur zu reaktivieren. Seit Gewerkschaften, Schüler und Studierende 2010 vergeblich versucht hatten, die Rentenpläne der damaligen Regierung zu stoppen, war es zu keiner größeren progressiven Mobilisierung mehr gekommen. Ende März jedoch versammelten sich nach einer Demonstration gegen die Arbeitsmarktreform zahlreiche Menschen auf der Place de la République in Paris. Unter dem Denkmal der Marianne berieten sie bei strömendem Regen ihr weiteres Vorgehen. Die Bewegung Nuit debout war geboren und verbreitete sich schnell von der Hauptstadt bis in die Provinz. Seitdem tagen in Dutzenden Städten Versammlungen unter freiem Himmel, die über politische Alternativen beratschlagen. Längst ist die Reform dort nur ein Thema unter anderen: Nuit debout lebt von einer weit verbreiteten Unzufriedenheit, die tiefer reicht.

In Frankreich besteht eine enorme Ungleichheit: Prosperierende Städte stehen abgehängten ländlichen Regionen gegenüber, insbesondere niedergehenden Industrierevieren wie Lothringen. Nicht nur dort leiden die Arbeitermilieus unter hoher Erwerbslosigkeit und mangelnden Aufstiegschancen. Die Jugend wiederum plagt sich schon lang mit prekären Verhältnissen, allerdings in unterschiedlichem Maße: Während junge Banlieue-Bewohner sozial und politisch ausgegrenzt werden, hängen die Uniabsolventen oft lange in befristeten und schlecht bezahlten Jobs fest. Es sind diese gebildeten Prekären, die hinter Nuit debout stehen und einen allgemeinen Unmut artikulieren: Die Politik lasse die Bürger mit ihren Nöten allein. In einer Umfrage erklärten fast neun von zehn Franzosen, die Demokratie „funktioniere schlecht“.

Nuit debout treibt etwas an, was schon 2011 die Empörten in Spanien und Griechenland oder Occupy Wall Street in den USA motivierte: der Wunsch nach „wahrer Demokratie“. Die Idee einer solchen Idealdemokratie leben sie auf ihren Versammlungen vor. Ihre Zusammenkünfte sind dabei in gewisser Weise auch sehr französisch: Es herrschen Freiheit (jeder darf sprechen), Gleichheit (alle haben dieselbe Redezeit) und Brüderlichkeit (offensives Verhalten, selbst Applaus, ist tabu).

So diffus die junge Bewegung auch noch sein mag, hat sie doch Schwung in die politische Debatte gebracht. So protestieren auch die meisten Gewerkschaften energisch weiter, auch wenn die Reform bereits per Dekret durch die Nationalversammlung ging. Vor allem aber kommt die Kritik an der Regierung nun von links. Der Front National kann nicht länger behaupten, er habe das Monopol auf Opposition im Land. Prompt hat sich die rechtsextreme Partei gegen die Streiks ausgesprochen.

Enthusiasten sehen einen neuen Mai 1968 heraufziehen, der in Frankreich für einen explosionsartigen gesellschaftlichen Aufbruch steht. Damals kam es nicht nur zu großen Studierendendemos, sondern auch zu wilden Streiks in den Fabriken. Aus Furcht vor einem revolutionären Umsturz suchte Präsident Charles de Gaulle Zuflucht bei französischen Truppen in Baden-Baden und ließ schließlich gar Panzer auf Paris rollen. Schon diese Episode zeigt allerdings, wie weit entfernt Nuit debout von der damaligen Revolte ist – selbst wenn Slogans aus dem Mai 68 reaktiviert werden, darunter: „Es ist verboten, zu verbieten“.

Was sich seitdem grundlegend geändert hat, ist das Lebensgefühl. Seinerzeit herrschte Optimismus: Es demonstrierten die Kinder des Nachkriegsbooms, die von der enormen Ausweitung der Studienplätze profitiert hatten. Den 68ern war der Aufbruchsgeist quasi in die Wiege gelegt. Ihr Veränderungswille speiste sich nicht zuletzt daraus. Diese Generation war so wohlhabend und gut ausgebildet wie keine zuvor, sie musste sich keine Sorgen um Arbeitslosigkeit machen und kannte die Grenzen des Wachstums nicht. Dagegen leben die prekären Platzbesetzer von heute mit mehreren ungelösten Dauerkrisen – von der Weltwirtschaft bis zum Klima. Die französischen Protestbewegungen der vergangenen Jahre waren folglich meist Abwehrkämpfe. Sofern sie Erfolg hatten, bestand dieser in der Verhinderung unpopulärer Gesetze: 1995 und 2006 kassierten die jeweiligen konservativen Regierungen unter dem Druck der Straße eine Rentenreform und geplante unsichere Verträge für junge Arbeitnehmer.

Mit Nuit debout wagt nun wieder eine Bewegung den Zug ins Grundsätzliche, selbst wenn sie dafür noch eine Sprache und ein Programm finden muss. Vielleicht eignet sich hier ja eine Generation den nötigen Optimismus wieder an. Und auch wenn dies nicht gleich zur revolutionären Weltveränderung führt: Es könnte doch zum Wandel der in Grabenkämpfen erstarrten französischen Linken beitragen.

Steffen Vogel ist Redakteur der Blätter für deutsche und internationale Politik

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