Enki Bilal nimmt in der Comicwelt einen Sonderstatus ein. Originalzeichnungen des gebürtigen Belgraders erzielen auf Auktionen regelmäßig hohe Preise. Als bildender Künstler hat er sich ebenso einen Namen gemacht wie als Regisseur. Seinen Kultstatus begründete er Mitte der siebziger Jahre jedoch mit Comics. In der Zusammenarbeit mit dem Szenaristen Pierre Christin entstand ein fünfbändiger Zyklus über soziale Kämpfe, linke Utopien und ihr Scheitern. Zwei dieser Bände liegen unter dem Titel Fins de Siècle in einer Neuauflage vor, ergänzt um ein längeres Interview mit Zeichner und Autor.
Um revolutionäre Gewalt geht es in Der Schlaf der Vernunft von 1979. Eine Gruppe bejahrter Faschisten verübt eine Anschlagsserie in Westeuropa. In dieser „Schwarzen Falange“ erkennt der Journalist Jefferson B. Pritchard alte Feinde aus dem Spanischen Bürgerkrieg wieder. Er trommelt seine ehemaligen Mitstreiter aus der Internationalen Brigade zusammen und versucht, die Rechtsterroristen zu stellen. Bald schon plagt die ergrauten Internationalisten nicht nur das Alter; sie zweifeln zunehmend am Sinn ihres Kampfes. Am Ende steht ein letztes Gefecht trauriger alter Männer, aus dem nur Pritchard lebend hervorgeht.
Das Album überzeugt neben der brillanten, realistischen Bildsprache durch eine große inhaltliche Tiefe. Man kann der Intention Christins folgen und in Schlaf der Vernunft eine Absage an den linken Terrorismus der Siebziger sehen. Man kann den Band als Allegorie auf das Fortleben der Geschichte lesen, ihrer unbewältigten Verbrechen wie ihrer überdauernden Hoffnungen. Man kann in ihm auch ein politisches Porträt Westeuropas erkennen mit bestechend genauen Charakter- und Milieuzeichnungen. Die zahlreichen Protagonisten werden vielschichtig gezeigt, ihre Ideale ernst genommen.
Bilal gehört nicht zu den Modeliberalen, die sich tösend von einer linken Vergangenheit distanzieren, die ihnen heute peinlich ist. Ungeachtet seiner Bestsellererfolge in Frankreich ist er kein Künstler, der sich dem Mainstream andient. Dafür fallen gerade seine jüngsten Veröffentlichungen zu verstörend aus. Die Weltgesellschaft, die Bilal dort im Gewand der Science-Fiction präsentiert, ist so tief greifend unmenschlich und lebensfeindlich, dass jede Legitimationsideologie an ihr scheitern muss.
Doch die kollektive Gegenwehr in der Rebellion spielt in diesen neueren, zutiefst pessimistischen Szenarien keine Rolle. Schon in den 70er Jahren hat Bilal den Widerstand nur als Phantasie glücken lassen, wenn Fabelwesen den Menschen beigesprungen sind. Der Menschheit traute er bereits damals nur zu, das Elend zu vergrößern oder weitere scheiternde Utopien zu produzieren. Seitdem sind seine Erzählungen stets düsterer geworden. Die Einzelnen werden in einer ökologisch kollabierenden Welt zwischen globalen Imperien, bewaffneten Sekten und den Privatarmeen der Großkonzerne zerrieben.
Facettenreiche Persönlichkeiten
Gerade weil seine Kritik keine Rücksichten auf politische Strategien oder utopische Hoffnungen nimmt, ist sie scharf und bedenkenswert. Das gilt auch für den zweiten, neu aufgelegten Band. In Treibjagd von 1983 spiegeln Bilal und Christin die finale Krise des Realsozialismus in einer Jagdgesellschaft alter Kader im winterlichen Polen. Dort wird ein junger Hardliner erwartet, der designierte Verantwortliche für die Beziehungen zu den Bruderparteien im ZK der KPdSU.
Die versammelten Funktionäre haben für ihre Parteien gelitten, sie sind skeptischer und klüger geworden, ihren Überzeugungen aber treu geblieben. Sie wollen dem Sozialismus einen letzten Dienst erweisen, indem sie den osteuropäischen Staaten mehr Eigenständigkeit ermöglichen. Der junge Betonkopf besteht auf Moskaus Dominanz, daher soll ihn auf der Jagd eine verirrte Kugel treffen; lediglich der verknöcherte SED-Mann ist nicht eingeweiht. Die Operation folgt den bewährten Methoden der Intrige: Ein eifriger junger Genosse aus Frankreich muss als nützlicher Idiot herhalten und den tödlichen Schuss landen.
Bilal und Christin zeigen die alten Kämpen nicht als Abziehbilder, sondern als facettenreiche Persönlichkeiten. Optisch opulent verbinden sie die verschlungenen Lebenswege ihrer Protagonisten mit einer zunehmend ins Mysteriöse spielenden Atmosphäre in der tief verschneiten Datscha.
Eines der Titel gebenden „Jahrhundert-Enden“ vollzieht sich in der inneren Erosion der sozialistischen Staatsparteien, in vergeblichen Manövern, um zu retten, was nicht zu retten ist. Die Fins de Siècle meinen jedoch auch die „Ziele des Jahrhunderts“, für die gekämpft und gestorben wurde: Ziele, für die oft jedes Mittel gerechtfertigt schien, so dass aus edlen Motiven mehr als zweifelhafte Handlungen entstanden. Treibjagd fängt die darin liegende Tragik gekonnt ein und entfaltet so eine beeindruckende erzählerische Wucht.
Fins de Siècle
Enki Bilal/ Pierre Christin aus dem Französischen von Resel Rebiersch, Ehapa, Köln 2009, 200 S., 45
Steffen Vogel lebt als freier Autor in Berlin
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