Komplizen der Tränen

Graffiti und Gesten Wände und Transparente spiegeln die kreative Wut der jüngsten Proteste in Frankreich

Es ist schon fast ein Gemeinplatz: Frankreich kann sich einer Tradition der Revolten rühmen. Diese gesellschaftlichen Aufbrüche setzen immer wieder kreative Potenziale frei, die sich - wie könnte es anders sein? - auf den Mauern der Städte austoben. "Unterm Pflaster liegt der Strand", hieß es im Pariser (und bald auch Frankfurter) Mai 68. Trocken wurde deklamiert: "Verbieten verboten" und eher poetisch warnte man: "Lauf, Kamerad, die alte Welt ist hinter dir her".

Kein Wunder also, dass während der jüngsten, nunmehr siegreichen Proteste gegen die Arbeitsmarktreform die Sozialforscher sich eilten. Galt es doch, die neuen Parolen zu erfassen, bevor die städtischen Reinigungstrupps den Wänden ihre Botschaften entrissen. Auf Recherche begab sich auch Béatrice Fraenkel, Untersuchungsdirektorin des Seminars "Anthropologie der Schrift". Mit ihrem Team nahm sie sich die Mauern des zeitweilig besetzten EHESS vor, eines kleinen sozialwissenschaftlichen Instituts im 13. Pariser Arrondissement. 600 Fotos und Hunderte Seiten mit Notizen trug sie allein dort bislang zusammen. "Die Graffitis sind sehr vielfältig und bilden so das Spektrum derjenigen ab, die die Schule besetzten", sagt Fraenkel. An den Inschriften lasse sich ablesen, wer wo genächtigt habe: Am Fuß des Gebäudes fänden sich eher politische Parolen, ganz oben seien sie schlicht "unklassifizierbar". Dort hatten sich die am meisten Marginalisierten aufgehalten.

Bei der Lektüre der Graffitis stößt der Betrachter schnell auf verbalen Radikalismus der stupideren Sorte. Den "Tod" wünscht man unter anderem "der Demokratie", "den Gesetzen", "dem Kapital" oder gleich "dem Bürger". Doch finden sich auch zahlreiche kreative Inschriften. "Reformieren wir die Reformen", klingt noch konventionell. Mit mehr poetischem Gespür formuliert offenbar ein Heidegger-Leser "Le dasein est dans le cul" ("Das Dasein ist im Arsch"). Richtiggehend lyrisch klingt folgende Inschrift, insbesondere im französischen Original: "Aube naissante est aube navrante quand les larmes sont complices" ("Das erwachende Morgengrauen ist das herzzerbrechende Morgengrauen, wenn die Tränen Komplizen sind"). Sie zeugt aber auch von der Perspektivlosigkeit einer Generation, die zwischen Praktikum und Minijob pendelt.

Einige Slogans legen nahe, zumindest einem Teil der Demonstranten ging es um mehr, als den CPE zu verhindern. "Utopie oder nichts", ist im traditionsreichen Quartier Latin zu lesen oder kurz und bündig: "Wir sind nicht zufrieden". Dort findet sich auch der anarchistische Aphorismus "Wenn niemand gehorcht, dann kommandiert auch niemand mehr". Auch der Wellness-Aspekt wird nicht unterschlagen: "Zerstören verjüngt", behauptet jemand.

Naheliegend, dass viele Slogans die Arbeitswelt zum Thema machen - oder eher angreifen: "Arbeiten wofür?", fragt einer. "Nieder mit der Lohnarbeit", fordert ein anderer, ein weiterer will "Weniger arbeiten, um mehr zu leben" und ein vierter behauptet gar "Die Lohnarbeit ist ein Gulag mit Klimaanlage".

Auf den Demonstrationszügen erfreuten sich - wenig überraschend - Wortspiele mit dem Kürzel CPE einiger Beliebtheit. Das Akronym steht bekanntlich für "Contrat première embauche" ("Ersteinstellungsvertrag"), die Protestierenden machten daraus wahlweise "Couillonade pré electorale" ("Deppenunternehmen in der Vorwahlzeit") oder "Court-circuit pour l´emploi" ("Kurzschluss für die Beschäftigung").

Auch die präsidialen Schlichtungsbemühungen honorierte nicht jeder, manche stellten sich die Zukunft des Staatsoberhaupts sehr konkret vor: "Chirac en prison!" ("Chirac ins Gefängnis").


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