Das Weltsozialforum (WSF) hat fraglos Eventcharakter. In vielen Medien wird das globalisierungskritische Treffen denn auch bloß als farbenfrohes Festival wahrgenommen. Seit fünf Jahren sehen wir jeweils Mitte Januar Fernsehbilder von Menschen, die in der brasilianischen oder indischen Sonne diskutieren, zelten und demonstrieren. Ähnlich verhält es sich mit der Wahrnehmung der meisten Printmedien: Vor- und Nachberichte gruppieren sich um das Ereignis WSF, in den elf Monaten dazwischen scheint der Sozialforumsprozess nicht stattzufinden. Sollte es obendrein länger nicht zu demonstrationsbedingten Glassplittern und brennenden Mülltonnen auf den Straßen einer europäischen Metropole kommen, schreiben selbst eher bewegungsnahe Zeitungen eine Krise der Globalisierungskritik herbei.
Dass die karnevalesken Elemente sowohl für die Aktivisten, als auch in der Außenwirkung wichtig sind, ist unbestreitbar. Und dass Straßenschlachten gute Fernsehbilder abgeben, ist auch keine neue Erkenntnis. Problematisch ist eher, dass der kontinuierliche Aufbau von Strukturen und Netzwerken selten beachtet wird bilden diese Netze doch die elastische Stärke der Bewegung. Dass etwa allein in Deutschland derzeit rund 35 lokale Sozialforen existieren und weiterhin welche gegründet werden, dürfte wenig bekannt sein. Veranstaltungen wie das erste Afrikanische Sozialforum im vergangenen Dezember fallen gleich ganz unter den Teppich.
Allein schon deshalb ist die Herausgabe des vorliegenden Sammelbandes verdienstvoll. Denn eines wird nach der Lektüre klar: diese globale soziale Bewegung existiert nicht erst seit Seattle und sie entwickelt sich in langen Wellen. Allein der erste Teil des Bandes, in dem die Entwicklung hin zum ersten WSF 2001 in Porto Alegre beschrieben wird, ist streckenweise äußerst informativ. So beschreibt Muto Ichiyo den südostasiatischen Weg zum Sozialforum von den ersten, bescheiden angelegten NGO-Konferenzen und den Hungerrevolten Mitte der neunziger Jahre hin zu immer stärkerer und dichterer Vernetzung. Über einen weiteren wenig wahrgenommenen Vorlauf, den transnationalen Zusammenschluss von feministischen und Frauenbewegungen erfährt man bei Johanna Brenner.
Der Sammelband spiegelt einen Zustand, der auch für die Bewegung kennzeichnend ist und je nach Standpunkt ihre größte Schwäche oder gerade ihren Charme ausmacht. Ähnlich wie bei den globalen oder kontinentalen Foren, stehen auch in dem Band zahlreiche, teilweise konträre politische Denkarten, Handlungsweisen und Strategien nebeneinander, ohne dass sie zwangsläufig in Beziehung zueinander treten würden (was auch damit zusammenhängt, dass nur ein kleiner Teil der Beiträge eigens für diese Zusammenstellung verfasst wurde). Da die wenigsten Autoren in Deutschland bekannt sind, bleibt es der Geduld des Lesenden überlassen, sich in diesem weiten Spektrum zu orientieren. Zur Autorenauswahl muss man wissen, dass der Band im Vorlauf des WSF 2004 in Mumbai für ein indisches Publikum konzipiert wurde. So darf es nicht wundern, dass zwar eine sehr dogmatische, maoistische Revolutionäre Schriftstellervereinigung aus Andhra Pradesh zu Wort kommt, einige im europäischen Kontext sehr bedeutende Bewegungen Sans Papiers, Basisgewerkschaften wie die französischen SUD, die Tute Bianche/Disobbedienti hingegen fehlen.
Doch ist eine solche Detailkritik müßig, liegt doch eine prinzipielle und kaum aufzulösende Schwierigkeit einer solchen Zusammenstellung schon im Prinzip der Auswahl selbst. Schließlich sind sich die Teilnehmer des WSF bei allen sonstigen Differenzen meist über eines einig: Es gibt nicht ein Forum, es gibt viele Foren. Kaum verwunderlich also, dass man lange suchen muss, um zwei ähnlich klingende Nachberichte zu finden. Einen Sammelband zum WSF, seinem Vorlauf und seinen Nachwirkungen herauszugeben, ohne bedeutende Sichtweisen auszublenden, scheint vor diesem Hintergrund fast unmöglich. Es ist nicht zuletzt eine Frage der Repräsentation: Wer entscheidet, welche Positionen oder Bewegungen aus welcher Weltgegend wichtig genug sind, um in einem solchen Überblick aufzutauchen?
Realistischerweise beanspruchen die Herausgeber gar nicht erst, hierauf eine Antwort gefunden zu haben: vielmehr benennen sie diese Schwierigkeit einleitend und bedauern beispielsweise explizit einen nicht zustande gekommenen Beitrag der Dalits (Angehörige der untersten indischen Kaste, die auf dem WSF in Mumbai sehr präsent waren). Zwei große Fehler macht das Buch aber nicht: Es ist weder eurozentristisch noch zu stark auf die Bewegungsprominenz fokussiert. Zwar sind alternative Stars wie Susan George, Arundhati Roy oder Walden Bello vertreten, im Gesamtbild aber nicht dominant. Stattdessen werden Sichtweisen geboten, die man im deutschen Sprachraum selten wahrnimmt, wie etwa den Beitrag des Afrikanischen Sozialforums, oder den Artikel von Andrej Grubacic, der viele der Bewegungen als ihrem Wesen nach anarchistisch begreift. Zudem handelt es sich durchweg nicht um Texte über, sondern aus der Bewegung. Die Akteure der »Globalisierung von unten«, ihre Sichtweisen und Debatten stehen im Vordergrund. So schließt der Band für den deutschen Sprachraum eine Lücke: ein so umfassendes, breit angelegtes Panorama sucht man sonst vergeblich. Das macht ihn trotz der stellenweise etwas holprigen Übersetzung und der sehr unterschiedlichen Lesbarkeit der einzelnen Beiträge sowohl für interessierte Beobachter, als auch für Aktivisten und Bewegungsforscher zu einer lohnenden Investition.
Anita Anand, Arturo Escobar, Jai Sen und Peter Waterman (Hrsg.): Eine andere Welt. Das Weltsozialforum. Aus dem Englischen von Carla Krüger und Wolfram Adolphi (Redaktion). Texte der Rosa-Luxemburg-Stiftung 15, Karl-Dietz, Berlin 2004, 505 S., 19,90 EUR
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