Ein kurzer Applaus, der "Anfangen! Anfangen!" signalisieren soll. Dann passiert eine Zeit lang nichts. Schließlich Auftritt der Band: Übersetzer Thomas Atzert, Moderator Andreas Fanizadeh, Kommentatorin Rahel Jaeggi und der charismatische Frontman Antonio Negri betreten die Bühne. Bevor Negri mit seiner spoken-word-performance beginnt, brandet erneut Beifall durch den voll besetzten Theatersaal der Berliner Volksbühne. Live and let die heißt die Veranstaltungsreihe, in deren Rahmen der italienische Philosoph sprechen soll, und man fragt sich: ist das Motto bei Michel Foucault entliehen oder bei James Bond?
Negris Auftritt an der Volksbühne war Pop - damit ist aber noch nichts über den Inhalt gesagt; denn obschon sein energischer Vortrag auch als Sprechtheater genossen werden konnte, ist offensichtlich, dass Negri mehr zu sagen hat als Jello Biafra oder Henry Rollins. Und so erklärt sich der Andrang mehrerer Hundert zumeist jüngerer Menschen an jenem Abend nicht nur aus dem Event-Charakter, sondern er zeigt auch, wie groß das Bedürfnis nach theoretischer Weltdeutung ist.
Seitdem sie den Theoriebestseller Empire verfasst haben, sind Antonio Negri und der Literaturwissenschaftler Michael Hardt aussichtsreiche Kandidaten, dieses Bedürfnis zu befriedigen. Mit Multitude haben sie vor kurzem den Folgeband zu Empire veröffentlicht. Dort nehmen sie den Faden an einer der zentralen und zugleich heftig umstrittenen Stellen ihres Erstlings wieder auf: der Beschreibung des möglichen Widerstands gegen die allumspannende Macht des Imperiums. Jenen Widerpart bildet eine Menge von Menschen, die von Negri/Hardt so genannte "Multitude".
"Multitude ist kein vorgegebener Begriff, sondern einer, der stets neu zu konstituieren ist", hob Negri gleich zu Beginn seines Vortrags hervor. Und so arbeitete er vor allem heraus, was die Menge nicht ist: sie ist nicht die Arbeiterklasse, nicht das Volk. Ideengeschichtlich greifen Negri/Hardt bis auf die materialistischen Philosophien des 16. Jahrhunderts und die Beschreibung der moltitudo bei Spinoza zurück. Gleichzeitig versuchen sie, scheinbar widerstreitende Subjektbegriffe zusammen zu denken. Vereinfacht gesagt, stellt der Multitude-Begriff eine Synthese aus dem Einzelnen (der "Singularität" bei Deleuze), der in verschiedene Machtbeziehungen eingebunden ist und einem Kollektivsubjekt (dem "revolutionären Subjekt" des Marxismus) dar. Es geht darum, Gemeinsames zu schaffen, ohne Differenzen zu homogenisieren.
Genau diesen Punkt kritisierte die Frankfurter Philosophin Rahel Jaeggi, die mit auf dem Podium saß. Den Konflikten, die sich an Differenzen entzünden, werde zu wenig Beachtung geschenkt, Negris Konzept klänge allzu versöhnend. Negri allerdings, wollte das nicht als Fundamentalkritik seines Ansatzes gelten lassen. Mag sein, dass es an dieser Stelle Schwächen gebe, doch, sagte er, "ich fordere mich selbst auf, das weiter zu bearbeiten". Man mag hier den versierten Rhetoriker herauslesen, der einen Einwand elegant umschifft. Doch das trifft nur zum Teil. Tatsächlich ist Negris Marxismus postmodern im besten Sinne, da er nicht den Anspruch erhebt, mit einem einzigen universellen Ansatz die globale soziale Wirklichkeit abbilden zu können. Schon in der Einleitung zu Empire betonen die Verfasser, dass sie in erster Linie ein Angebot machen wollen, das zum Weiterdenken einladen soll, "ein offenes Untersuchungsprojekt", wie Negri in der Volksbühne sagte. Seine Entgegnung war also durchaus ernst gemeint.
Die "Multitude" meint keine feste Größe, keine klar einzugrenzende Gruppe von Menschen. Vielmehr "lässt sie sich nur als der Prozess der Schaffung des Gemeinsamen definieren". Das Gemeinsame beinhalte kein emanzipatorisches Potential, sondern sei die Emanzipation selbst - dennoch müsse "die Emanzipation stets weiter entwickelt und betrieben werden".
Eine Gradmesser für politische Theorie ist, ob sie dabei hilft, sich in der Welt zu orientieren und in ihr zu handeln. Dies leisten nicht nur trennscharfe Begriffe, sondern auch solche, deren Bedeutung sich mehr erahnen, als klar definieren lässt. "Multitude" wäre ein Beispiel dafür, Giorgio Agambens "Ausnahmezustand" ein weiteres. Tatsächlich beziehen sich Gruppen und Bewegungen aus dem antirassistischen und globalisierungskritischen Spektrum positiv auf den Ansatz Negri/Hardts. Vom Konzept der "Multitude" bis zur "Welt, in der viele Welten Platz haben" der mexikanischen Zapatistas ist es nicht weit.
Was wohl das Volksbühnen-Publikum über all das dachte? Ein großer Andrang in Richtung Saalmikrofon setzte nicht ein, und Zeit für Diskussion hatten die Veranstalter auch kaum gelassen. Empire hat fast zwei Jahre für Aufregung und wütende Diskussionen gesorgt, die oft nicht über ein Pro/Contra hinausgingen. In den letzten Monaten hat sich die Debatte versachlicht und stärker Einzelaspekten zugewandt. Eben dies wäre Multitude auch zu wünschen.
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